
Lebenslügen
Es war ein langer Winter gewesen. Lang, dunkel und voller Unruhe. Seine Eltern hatten gestritten. Oft. So oft, als müssten sie etwas nachholen. Erstmals ohne den Versuch es zu verheimlichen. Ohne Rücksicht auf ihren Sohn. Irgendwann Anfang Dezember bekam das friedliche, behütete Leben erste Risse.
Eine winzige Störung hier, eine kleine Unstimmigkeit wenig später. Ein kaum spürbarer Defekt, einem Haarriss gleich, zog sich durch das warme Miteinander seiner Eltern, die doch immer für und miteinander harmoniert hatten. Die Zauberformeln seiner Mutter verloren ihren Glanz. Es war, als habe sich ein falscher Samen in eine perfekte Wiese voller bunter Blumen verirrt. Einem einzigen Korn gleich, vergiftet, kaum mehr als ein helles, stecknadelgroßes Kieselsteinchen im Schuh, das für einen Moment des Unbehagens, der Irritation sorgte. Nicht von Dauer. Eigentlich. Und doch von hartnäckiger Präsenz.
An Weihnachten saßen Wolfgang und seine Mutter wie immer auf der Empore der Inselkirche, lauschten der Predigt von Vater und Ehemann, und als Wolfgang später unter dem Tannenbaum eigentlich die Augen hätten zufallen sollen vor Müdigkeit, war die alte Vertrautheit wieder da. Waren seine Wünsche erfüllt. Bedankte sich seine Mutter zärtlich für die Bastel-, der Vater anerkennend für die Schnitzarbeit. Und weil die roten Kerzen am Tannenbaum brannten, die tiefe Stimme des Vaters sich perfekt mit der hellen der Mutter ergänzte, weil es zu schneien begonnen hatte und der Geruch von Zimtsternen das Wohnzimmer erfüllte, hatte Wolfgang vergessen, dass ihm seine Mutter so verändert, so viel stiller vorkam. Dass die Augen seines Vaters ihren warmen Glanz verloren hatten.
Den Start ins Jahr 1981 verschlief Wolfgang, fiebrig und hustend. Als die ersten Knospen der Forsythienhecke kurz davor waren sich zu befreien, um im kräftigen Gelb den Frühling zu verkünden, hatte Wolfgang mehr als sechs Wochen Unterrichtszeit verpasst und war abgemagert wie ein verhungerter Welpe. Um seine Mutter glücklich zu machen, aß Wolfgang auch ohne Appetit und stand nun jeden Tag für ein paar Minuten auf. Als er eine Stunde am Stück auf den Beinen sein konnte, als er drei Mahlzeiten am Tag ohne Protest aß, holte Hilke Pootharst eine junge Frau mit langen braunen Zöpfen ins Haus.
Marie hatte ihr Abitur im Sommer des vergangenen Jahres bestanden, sich um einen Studienplatz beworben, war abgelehnt worden und half nun in der Pension ihrer Eltern aus. Wolfgang mochte das ruhige Mädchen, das nie die Geduld verlor. Das, wenn es sprach, so klang, als sänge es. Doch eines Tages blieb Marie weg, ohne Abschied, ohne ein Wort der Erklärung, kam einfach nicht wieder. Seine Mutter behauptete, Marie müsse ihren Eltern helfen und habe nicht mehr genug Zeit. Außerdem sei er gesund und kräftig genug, um wieder in die Schule zu gehen. Erst Jahre später erfuhr Wolfgang die Wahrheit über Maries stillen Abschied, der genau genommen keiner gewesen war.
Das Kranksein und wieder Gesundwerden, die täglichen Stunden mit Marie, sein zehnter Geburtstag hatten Wolfgang abgelenkt. Abgelenkt von dem, was sich außerhalb seines Kinderzimmers entwickelt hatte. Abgelenkt von den nicht greifbaren Ängsten, dass sich sein Leben veränderte und er nichts dagegen tun konnte. Es war, als habe seine Lungenentzündung die gesamte Familie krank gemacht. Seine Mutter, die immer gestrahlt hatte, die vor lauter Energie immer mehrere Dinge gleichzeitig erledigte und niemals auszuruhen schien, sah erschöpft und traurig aus. Ihr Lachen hallte nur noch selten, und dann sehr dünn durch das Pfarrhaus. Ihr Gang, ihre Bewegungen waren langsamer als vor seiner Krankheit, von widerwilliger Trägheit. Als wäre alles Kampf. Als müsse sie sich zwingen zu den Dingen, die immer ihr Lebensinhalt gewesen waren. Hinnerk Pootharst schien es nicht zu bemerken. War kaum noch zuhause, schloss erst oft spät in der Nacht die Pfarrereitür auf und war am Morgen, wenn Wolfgang die Treppe hinunterkam, schon längst auf und davon. Krankenbesuche, Geburtstage, Trauergespräche, Hochzeitsvorbereitungen, Seelsorge. Die Arbeit schien sich während Wolfgangs Krankheit verzehnfacht zu haben. Und dann, aus dem Nichts heraus, begannen die lauten Gespräche mit Stimmen, aus denen Ärger und Wut und Ungeduld flossen wie Eiter aus einer entzündeten Wunde.
Es war, als habe ein Staudamm seine Stärke verloren, als sei seine Wand porös geworden. Wie unvorstellbare Wassermassen schützende Mauern tosend durchbrechen, so wurden die beängstigenden Veränderungen mit jeder Auseinandersetzung spürbarer, ließen sich nicht mehr abwinken, verlachen. Die Familie war nicht mehr unüberwindbare Trutzburg gegen alles, der sichere Schutz vor allem, sondern ein fragiles Gebilde, das unter der minimalsten Last zu zerbrechen drohte. Der plötzlich so grobe Wandel im Umgang seiner Eltern miteinander fühlte sich wie nach zu vielen Eierkuchen mit Kompott oder nach zu viel Sahne auf zu viel Eis an. Und dann. Stille. Frieden.
Es war, als lege sich ein warmes, weiches Tuch über dunkle Trümmer und verwandle sie in sanfte Wolken. Doch der Schein trog. Hinnerk Pootharst verweigerte seiner Frau das Gespräch. Schien sich nicht mehr dafür zu interessieren, wie es ihr ging. Fragte nicht besorgt nach, wenn sie aufgebracht war. Zum ersten Mal erlebte Wolfgang, dass seine Mutter weinte. Sah die Veränderung, die er zu spüren geglaubt hatte, und die sich jetzt unter den Kleidern seiner Mutter wölbte.
Hilke Pootharst verfluchte ihren Mann, heimlich, trank, noch heimlicher, und klammerte sich ganz offen an Wolfgang. Er saß abends, manchmal auch schon nach der Schule zu ihren Füßen, oder hielt ihre Füße in seinem Schoß, massierte die geschwollenen Knöchel seiner Mutter und hörte nur zu. Hilke wollte keine Antworten, keinen Trost. Sie wollte nur, dass ihr einziger Sohn ihr Recht gab. Dass er verstand, warum er niemals Pastor werden durfte. Dass er begriff, dass man Frauen niemals so behandeln durfte, wie Hinnerk Pootharst es tat. Wolfgang nickt und begriff nicht, was seine Mutter meinte. Warum sie so verbittert klagte, statt wie früher jeden Tag voller Freude und Dankbarkeit zu begrüßen. Warum sein freundlicher, sein warmherziger Vater kaum mehr zuhause war, woher plötzlich die steile Falte zwischen seinen buschigen Augenbrauen rührte. Wolfgang hatte sich immer eine Schwester gewünscht, die er hätte beschützen können. Aber auch ein Bruder wäre ihm recht gewesen. Nur nicht als Einziger in der Klasse ohne Geschwister bleiben. Doch irgendwann hatte er die Hoffnung auf einen Spielkameraden aufgegeben, und war geradezu erschrocken, als er begriff, dass sein größter Wunsch nun doch noch in Erfüllung gehen sollte.
„Es wird sich einiges ändern“, sagte seine Vater und Wolfgang nickte verständig, wie ein zukünftiger großer Bruder nun mal zu sein hatte und versicherte, er freue sich auf die Veränderung. Was sich aber vor allem änderte, war die Stille, die die lauten Stimmen verdrängte. Das Schweigen zwischen seinen Eltern war noch viel bedrohlicher als ihr Streiten. Es hing wie eine giftige Wolke in allen Räumen und machte das Atmen und Denken schwer. Wenn seine Mutter mit wirren Haaren, in ihren Morgenmantel gewickelt, mit leeren Augen aus dem Fenster blickte, als suche sie nach etwas, verkroch Wolfgang sich in sich selber. Seine Mutter zog ihn nicht wie früher leicht und mühelos, lachend und voller Liebe zurück. Trotz ihrer Schwangerschaft wurde sie immer weniger. Und der Vater, der immer dagewesen war, verschwand auf leise, unheimliche Weise aus Wolfgangs Leben.
In manchen Nächten lag er wach, sein Herz raste, seine Hände umklammerten das Holz seines Bettes, bis er glaubte, jeder einzelne Finger würde brechen. Nur eine winzige Öffnung in seinem Hals ließ noch einen Hauch Luft in die Lungen. Er hatte Angst zu ersticken. Angst, zu erblinden, weil vor seinen Augen alles verschwamm. Weil sie schmerzten, bis sie schließlich überschwappten wie Leitungswasser, das für den Moment unbeaufsichtigt in die bauchige Glaskaraffe läuft.
Und dann saß eines Nachmittags, wenige Tage vor dem errechneten Geburtstermin, ein junger, unfassbar schöner bleicher Mensch im Wohnzimmer. Mit dunklen Augen, dunklen Locken und einem weichen Mund.
„Das ist Kilian“, sagte seine Mutter, „der neue Vikar.“
„Hallo, Wolfgang“, sagte Kilian, der neue Vikar und stand auf, um dem Sohn seines Pastors die Hand zu reichen.
„Guten Tag“, sagte Wolfgang und spürte tausend Ameisen, die über seinen Arm bis hoch in seinen Nackten krabbelten als er Kilians weiche, feste Hand schüttelte.
„Kilian bekommt die beiden Zimmer oben“, sagte seine Mutter und Wolfgang fiel auf, wie angespannt ihre Stimme klang. Plötzlich glaubte er zu verstehen, warum seine Eltern seit Monaten stritten. Und spürte nur noch blanke Angst. Er würde Spiekeroog verlassen müssen. Weil kein Platz im Pfarrhaus für sie alle sein würde. Für seine Eltern, das Baby, ihn – und den neuen Vikar. Dass seine Eltern ihn, ihren eigenen Sohn, aufs Festland in ein Internat schicken würden. Doch Kilian rettete Wolfgang, indem er das zweite Zimmer ablehnte. Da tanzten die Ameisen über Wolfgangs ganzen Körper. Er vermied es, seine Mutter anzusehen, und senkte den Kopf, damit sie seine Erleichterung nicht sah. Dann berührte ihn er bleiche, schöne junge Mann und lächelte: „Wir beide werden uns gut verstehen, so als Zimmernachbarn, oder?“
Drei Tage später wurde seine Schwester geboren. Sie war eines dieser Kinder, bei denen die Erwachsenen gequält lächeln und es niedlich nennen, obwohl es ein hässliches, zerknautschtes Etwas ist. In Franziskas Fall war es besonders schlimm. Unansehnlich mit ihrem roten Storchenbiss, der wie ein übergroßes V auf der viel zu kleinen Stirn prangt bis zur Nasenwurzel ausbreitete. Wolfgang aber sah weder wie geschwollen das Gesichtchen war, noch fand er das Mal scheußlich. Ehrfürchtig strich er dem winzigen Wesen immer und immer wieder vorsichtig mit dem Zeigefinger über das Gesicht, die kleinen Hände. Sanft küsste er ihre winzigen Wangen. Und als er seine kleine Schwester zum ersten Mal halten durfte, pochten Stolz und Liebe wie Trommelwirbel in seinem Herz. Er würde diesen Menschen für den Rest seines Lebens beschützen.
Nur zwei Wochen nach Franziskas Geburt musste seine Mutter in eine Klinik. Ein halbes Jahr blieb Hilke Pootharst in ärztlicher Behandlung. Eine gute Freundin der Familie zog in Pfarrhaus, in das Schlafzimmer der Eltern ein, kümmerte sich um Franziska, kochte und putzte für Wolfgang, seinen Vater und den neuen Vikar. Wolfgang kannte die Frau des Dachdeckers nur flüchtig. Sie war kaum älter als seine Mutter, ein wenig scheu. Wiebke hatte ihre eigene Tochter verloren, als das Mädchen erst ein Jahr war. Und nun war sie glücklich, sich um ein hilfloses Baby kümmern zu dürfen. Alles drehte sich nur noch um Franziska. Es war die Freundschaft zum Vikar, die Wolfgang rettete. Jeden Abend kam er in sein Zimmer, half bei den Hausaufgaben, hörte zu, beantwortete Fragen und versprach, dass Hilke bald wieder gesund nach Hause käme. Es dauerte mehr als ein Jahr.