Klüger dank Umwegen

Unmut umgibt meine niederländischen Nachbarn wie eine dunkle Wolke. Mein schlechtes Gewissen lässt mich noch vor dem Zähneputzen zerknirscht um Verzeihung bitten, für meinen fröhlichen Abend mit Fanny. Mit einem Lächeln wird mir augenblicklich Absolution erteilt. „It always happens“, sagt die attraktive Mittsiebzigerin im dezenten Ringelpullover, der möglicherweise ihr Nachthemd ist. Aber ihr bebrillter, schlacksiger Mann – ständig wie aus dem Ei gepellt, als müsse er direkt zu einer wichtigen Konferenz – nuschelt mit besorgtem Blick, dass es um diese Jahreszeit sehr schwierig, sehr, sehr schwierig wird offene Campingplätze zu finden. In der Provence sowieso. Im Frühjahr verreist es sich doch so viel entspannter. Mein Tinnitus freut sich über diese unerwünschte Information. 

Jeanne Erica will mich gar nicht mehr loslassen, als ich am späten Vormittag mit meinem Gespann vor der Anmeldung parke. Sie fragt, ob ich wieder kommen, ob wir uns wiedersehen werden. Natürlich sage ich oui, bien sûr, obwohl wir beide wissen, dass es eine liebevolle Lüge ist. Als ich in den Wagen einsteige, öffnet Jeanne Erica das Haarband, als wolle sie sich von ihren langen Zöpfchen tröstend umarmen lassen. Dann dreht sie sich weg und drückt beide Handballen auf die Augen. 

Als ich mit quietschender Bremse – Little Miss Sunshine scheint entweder prinzipiell oder aus Vorfreude zu quietschen – vor der ersten Ampel halte, pingt eine Nachricht auf: Que le Seigneur vous accompagne tout le long de votre route. Ihr Segenswunsch berührt mich. Mein falsches Versprechen beschämt mich. Und an der nächsten Ampel lese ich, wie dankbar sie dem Herrn ist, der ihr am Tag vorher erlaubt hat zu arbeiten, denn er alleine ist der Gott der großartigen Verbindungen. Jeanne schreibt weiter: Ce qui l’impressionne en vous, est votre acharnement que j’ai observé lorsque vous aves oublié votre téléphone au Parc. (Was ihn an dir beeindruckt, ist deine Beharrlichkeit, die ich beobachtet habe, als du dein Telefon im Park vergessen hast.) Ob es meine Beharrlichkeit, meine Intuition oder Gott ist, die mich mein Handy hat wiederfinden lassen, spielt keine Rolle. Ich bin schlicht erleichtert, nicht zum digital detoxen gezwungen zu sein. 

Neugierig und nervös ob der nächsten Station versuche ich die knapp 100 Kilometer lange Fahrt zum Waldcamping-Platz in Fontenoy-le-Château zu genießen.

Mit durchschnittlich 54 km/h schleicht es sich entspannt über schnurgerade, dafür bergige Landstraßen, durch endlose Weiten, schon ein Hauch von Herbst über der Landschaft. Vorbei an riesigen Kuhwiesen, überschaubaren Schafherden und gigantischen, frisch gepflügten, dunkelbraunen Feldern. Es geht durch malerisch wirkende Dörfchen, die in Wahrheit verwaist und verwahrlost sind. Dann wird die Straße zu einem sehr engen, schlecht asphaltierten Waldweg. Wenn jetzt die Achse bricht? Ein Reifen platzt? Mir ein suizidales Reh vors Auto hüpft? Ein LKW oder auch nur Trecker von vorne kommt? Passiert natürlich alles nicht. 

Das Navi schweigt, als ich durch Fontenoy-le-Château tuckere und ein schmales, verwittertes Schild einen Campingplatz ausweist. Wider besseren Wissens – der Ort ist so winzig, der hat niemals zwei Campingplätze – folge ich den Anweisungen der Stimme. Die behauptet kurz darauf, ich sei am Ziel. Irrtum! Ich wollte nicht zum Maire. Der Bürgermeister wird mir kaum einen Stellplatz anbieten. Aber wenden am Berg? Gar rückwärts fahren? Stattdessen folge ich der schmalen Straße, lande auf einem offenen Platz, der zu einem heruntergekommenen Hof gehört. Misstrauische Blicke pariere ich mit einem freundlichen Winken durchs herunterlassen Fenster und einem gerufenen: „Bonjour.“ Wirkt Wunder. 

Endlich erreiche ich mein Ziel. Augenblicklich spukt das Wort Geisterstadt durch meinen Kopf. Der dunkelhaarige, reichlich ungepflegte Dauercamper mit für die Uhrzeit bemerkenswert ausgeprägtem Alkohol-Atem befeuert mein Fluchtbedürfnis. Ich drehe eine höfliche Runde um den verlassenen Platz, gesäumt von verschalten Wohnwagen, biege ab und halte kurz darauf vor der Arztpraxis am Ortsausgang, die bis 16. Oktober geschlossen hat. Ich könnte theoretisch auch hier die Nacht verbringen… Eine Steinbrücke über einem kleinen Fluss, der mehr ein Bach ist. Alles doch ausgesprochen malerisch und romantisch.

Ich will Richtung Claudon und vertraue meinem Orientierungssinn noch weniger als dem Navi. Wie in guten alten Zeiten frage ich also echte Menschen. Madame im Haus hinter mir sieht aus wie eine zerrupfte Eule, die gerade erst wach geworden ist. Ihre blondierten, ungekämmten Haare haben einen dunklen Ansatz, ihr Kleid aus Polyester ist wenigstens aus den späten 1980er Jahren, im Mundwinkel klebt eine Zigarette. Monsieur schneidet das Efeu und hat keine Ahnung, was ich von ihm will. Also brüllt er Madame zu: „Depêche toi! Madame veut vos conseils!“ Und Madame wiederum brüllt in ihr Handy: „A demain. A demain. Non, c’est une Madame… oui, a demain. A bientôt, a bientôt.“ Sie riecht nach Schnaps oder Wein oder beidem, bewundert Raluca und bietet an, sie zu behalten. Einen Ort Claudon? Mit Campingplatz? Kennt sie nicht. 

Ist ja auch ganze 23 Kilometer entfernt. Krame ich die Straßenkarte vom ADAC raus? Oder gebe ich dem Navi eine zweite Chance? Inzwischen sind wir schon wieder dreieinhalb Stunden, statt nur zwei unterwegs. Gegenwart gewinnt gegen Vergangenheit . Ich drücke das Gaspedal auf erlaubte 70 km/h.

In Caudon lande ich vermutlich nur deswegen an der Kirche, weil die kein eigenes Rathaus haben. Ich wende waghalsig, entdecke das Schild nach Verbamont. Das Navi schweigt, als eine aufgehängte Holzbohle mit weißer Schrift CAMPING winkt. Selbstverständlich braucht mein Hirn zu lange – Einfahrt verpasst. Dafür kommt von vorne ein blauer Kastenwagen. Die Straße ist zu eng für uns beide. Aber ich kann nicht rückwärts fahren (Antischlingerkupplung wäre schon schön in diesem Moment). Also lässt sich die grauhaarige Dame in ihrem alten Citrön langsam den Berg runterrollen, bis ich vorbei kann. „Merci beaucoup, Madame.“ Sie lächelt und dann sagt das Navi: links abbiegen, dann haben Sie Ihr Ziel erreicht. Klar. Elende Technik! Ich habe mich festgefahren auf einem leicht nach oben führenden Waldweg – unterhalb des eigentlichen Campingplatz Clairière du Verbamont

Es braucht sieben Anläufe und zwanzig Minuten, bis ich den Wohnwagen wieder auf der Straße habe. Und dann bin ich am schönsten Ort, den ich mir nur wünschen kann.