Herausforderungen

Maclas

Abschied kann so zauberhaft sein.

Cécile zupft Blätter zwischen den Scheibenwischer weg, pustet das bräunliche Laub sanft von der Motorhaube, schenkt mir eine handvoll frisch geerntete rote, orange und gelbe Cocktailtomaten, umarmt mich und wir versprechen einander, uns nicht zu vergessen und wiederzusehen. René und ich küssen uns auf die Wangen.

Ein letztes Mal runter nach La Hutte, dann liegt das Ourche-Tal auch schon hinter mir, schleiche ich mit 45 km/h durch die Serpentinen, holpere über löchrige, enge Straßen, durch winzige Dörfer, über steinerne Brücken. Und freue mich auf meine nächste Herausforderung, auf das Gespräch mit der Enkelin von Madame Dubois, aber vor allem über die grandiosen Herbstschattierungen der Laubwälder in den wunderschönen Vogesen.

In beinahe jedem kleinen Ort gibt es wenigstens eine Boulangerie und Patisserie. Tankstellen dagegen müssen herbei gewünscht werden. Sie tauchen dann aber trotzdem nicht auf. Als ich endlich für preisgünstige 1,998 € / l auf der A 31 tanke, falle ich erst mal sehr elegant über die Anhängerdeichsel. Der Schnauzbart an der Zapfsäule glotzt ungeniert, zuckt nicht mal, um mir ritterlich aufzuhelfen. Ungerührt und souverän überspiele ich den fiesen Schmerz im Ellenbogen, Handgelenk und rechten Knie.

Wenn ich geahnt hätte, dass dieser Sturz durchaus symbolisch zu verstehen sein könnte…

Den rechten Arm von da an in selbstmitleidiger Schonhaltung auf der Mittelkonsole gehts mit stressfreien 81 km /h immer weiter, weiter, weiter, inzwischen auf der A6 Richtung Lyon. Eine kleine Pinkelpause für Raluca, in der ich gleichzeitig mit zwei Kordeln die Dachluke sichere, weil bei einer Schraube die Mutter fehlt, worauf sich die mittlere Feststellschraube gelöst hat. Die Gefahr besteht, dass der Fahrtwind die Luke abreißt. Es ist so unglaublich charmant mit einem Oldtimer durch die Gegend zu juckeln.

Dann durchqueren wir Lyon, zweitgrößter Eisenbahnknotenpunkt Frankreichs, 2000 Jahre Historie inklusive Amphitheater. Will sagen, die halbe Millionen Einwohner sind sicherlich stolz auf ihre pittoreske, geschichtsträchtige, historische Altstadt, die absolut sehenswert ist und so weiter. Aber was ich aus den Augenwinkeln erhasche, ist so scheusslich wie alle Außenbezirke und Gewerbegebiete dieser Welt. Wenigstens ist en gros der heutigen Etappe geschafft. Keine sechzig Kilometer mehr bis Maclas.

Bei Abfahrt hat das Navi großspurig versprochen, die 432 Kilometer seien in vier Stunden und siebzehn Minuten zu bewältigen. Lüge! Erst eineinhalb Stunden nach der errechneten Zeit erreichen wir unser Ziel. Eine Apfel- und Kirschplantage mit endlosen Reihen von Pflück- und Kopfsalat, Thymian und vermutlich auch anderen Kräutern. Alles sehr in die Jahre gekommen. Immerhin: auf dem Weg zu den Sanitäranlagen – eine Dusche, eine Unisex-Toilette, zwei Waschbecken -, die sich das Areal mit den vier Müllcontainern teilen, verströmt ein uralter Rosenstamm intensiven lieblichen Duft. Zufall?

Niemand öffnet, als ich klingle, niemand nimmt meinen Anruf entgegen. Niemand da, der mich einweist. Also fahre ich auf gut Glück und rückblickend reichlich überheblich den Berg hoch. Verdränge aufkeimende Zweifel angesichts der grob in den Anhang gehauenen, unbefestigten Stellplätze. Da gibt es ein unschönes Geräusch – der Hänger setzt auf, bzw. die Stützen schaben über den Kies. Kein Problem. Rückwärtsgang rein und los. Geht aber bei Tabbert Baujahr 1969 nicht einfach so. Immer erst den kleinen Hebel an der Deichsel einrasten lassen, damit die Wohnwagenbremsen nicht blockieren. Kurze Rekapitulation: Ich habe ein komplettes ADAC-Anhänger-Sicherheitstraining absolviert und bin schon mindestens vier Mal mit LMS rückwärts gefahren. Natürlich kann ich meinen Wohnwagen rückwärts UND am Hang einparken.

Phase eins: Selbstüberschätzung – Selbstironie – Selbsthilfe. Trotzdem läuft die Sache mit dem rückwärts am Hang einparken komplett aus dem Ruder. Denn plötzlich steht der Hänger in ungesundem 45-Grad-Winkel zum Auto. Blöd, aber nicht weiter wild. Einfach vorwärts fahren, bis Wagen und Hänger wieder eine Linie bilden. Können vor lachen. Links gehts hoch – theoretisch. Dafür bräuchte der Astra allerdings Allradantrieb. Rechts winkt ein fetter Absatz.

Phase zwei: die Mädchennummer. „Excusez-moi, Monsieur, j’ai une probleme.“ Monsieur ist Erntehelfer, spricht kein einziges Wort englisch, gibt dafür den freundlich lächelnden Gentleman. Aber Ahnung vom Rückwärtsfahren hat er nur bedingt. Immerhin, gemeinsam gelingt uns die Entknäulung, ich fahre bergab, auf Monsieurs Anraten und gegen mein Gefühl links unterhalb des Hauses ein Stück hoch, um anschließend rückwärts auf den untersten Stellplatz zu rangieren.

Phase drei: kompletter Kontrollverlust. Nach dem neunten Anlauf im rückwärts Einparken verliere ich die Beherrschung und im Beisein meines freundlichen Helfers, der ein paar Schritte Abstand zu mir hält, rufe ich mehrfach verdammte Scheiße! Weil er unsicher lächelt, mich offensichtlich nicht versteht, wüte ich lautstark merde! Um anschließend erst auf das Lenkrad einzudreschen, danach brüllend gegen die Deichsel zu treten, um dann zeternd LMS abzukuppeln, ohne einen genauen Plan zu haben.

Am Ende rettet mich das Leben in Gestalt eines weiteren Angestellten, der vorher bedauerte, keine Zeit zu haben. Eine halbe Stunde später weiß ich warum: er hat seinen einjährigen Sohn abholen müssen. Und ist mit ihm zurückgekommen zu der verzweifelten Deutschen in blauer Marlenehose und weißer Bluse. Jetzt ruft er den Campingplatzbetreiber an und schildert ihm die ausweglose Situation und reicht mir dann sein Handy. Laurant spricht glücklicherweise fließend englisch und empfiehlt ruhig zu bleiben, zu warten, er ist in einer Stunde da, dann sehen wir weiter. Ganz falscher Vorschlag! „Ich kann jetzt hier keine Stunde warten! Ich war sechs Stunden auf der Autobahn. Mein Hund hat noch nicht gepinkelt und muss fressen.“ Gut, dass ich heute früh auf Mascara verzichtet habe.

Die Jungs haben derweil einen Rettungsplan ausgearbeitet, der da heißt: sie schieben den abgehängten Wohnwagen genau da hin, wo Madame möchte. Madame ist alles egal, solange das Drama nur ein schnelles Ende hat. Innerhalb von einer Minute steht LMS perfekt, mit Tür ins Tal, und Madame beschämt daneben. Die Männer lächeln, als ich mich im Wechsel entschuldige und bedanke. Dann verschwinden sie und der Erntehelfer sagt noch, a demain.

Oh, ja, ich habe mich in Maclas von meiner allerbesten Seite, und den Jungs aus dem französischen Hinterland gezeigt, was eine echte deutsche Dame ist.

Immerhin habe ich endlich verstanden, wie man unterhaltsame Geschichten für daheim sammelt.