Im Tal der Glücklichen



Stress mit Raluca (in dauerpanischer Alarmhaltung). Stress durch die neuen Camper-Nachbarn (unfreundlich und ignorant). Aber vor allem Stress mit Kayserling.

Plötzlich macht er Druck. Mein freundlicher Hinweis, dass Madame Dubois vor November keine Zeit für ein Treffen, geschweige denn ein erstes Interview hat, wurde abgebügelt mit der Begründung, wir hätten doch jetzt Kontakt zu einem engen Familienmitglied. „Konzentrieren Sie sich auf Mary Stewart, Klara“, sagt Kayserling. Dass die Ur-Enkelin in Neuseeland lebt, ihre Großmutter das letzte Mal vor sechs Jahren zum 90. Geburtstag gesehen hat, spielt keine Rolle. Ende des Monats will der Verlag das erste Kapitel.

Noch weiß ich nicht, wie ich das schaffen soll. Ich habe nichts in der Hand. Nichts, außer den wirren Sprachnachrichten von Mary Stewart, die sie mir seit unserem Telefonat mehrfach am Tag schickt. Nachrichten ohne jeglichen Nutzinhalt. Mary klingt, als hätte sie einen Sprung in der Platte. Immer wieder geht es nur darum, wie schlecht der Rest der Welt ist und ihrer Ur-Großmutter natürlich nur schlechtes will. Namen erfahre ich keine. Mary Stewart flüsterte gestern Nacht, sie will nicht den Zorn der Familie auf sich ziehen. Nicht ihre Ehe gefährden, schlimmstenfalls ihre Kinder verlieren. I fear for my life, Klara! Bei diesem Satz bin ich dann ausgestiegen. Ich sollte Kayserling das vorspielen.

Meinen Plan, direkt runter nach Cassis zu fahren, lege ich vorerst auf Eis – immer noch in der Hoffnung, François-Anne de Bellejour meldet sich. Abgesehen davon, gibt es direkt in Cassis und Umgebung keine für Wohnwagen geöffneten Campingplätze (mehr). Da ich meinen Luxuszeiten ja au revoir gewunken habe, steht ein teures Mobilhome nicht zur Diskussion. Zumal ich dank ASCI_Card nicht mehr als 20 Euro für die Nacht bezahle und durchschnittlich 30% spare – Raluca kostet nix, Gebühren für Stromkosten fallen keine an.

Nachdem meine Suchkriterien dreimal den selben Campingplatz ausgespuckt haben, steht die Entscheidung fest. Es geht nach Orgon in die Provence-Alpes Côte d’Azur.

Langsam bekomme ich Routine im Zusammenpacken. Überpünktlich verlassen wir den Campingplatz. Mein Plan, Raluca eine kleine Hunderunde an der Rhône mit einem letzten Blick auf die Brücke zu schenken, scheitert. Blöderweise ist parken mit dem Wohnwagen dort interdit. Strengstens! Hätte ich mich gestern bloß nicht vom goldenen Licht blenden lassen…

Und weil Murphys Law niemals nur für die anderen gilt, blockieren natürlich die Bremsen von Little Miss Sunshine beim Versuch, wieder aus der Sackgasse zu kommen. Also, Blicke ignorieren, ebenso den eigenen Stolz, abkoppeln und schieben. Eindrucksvoll lasse ich meine Anstrengung hören. LMS bockt wie die Ziege am Strick. Keine Chance, sie alleine auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Eine zierliche Dame in ihren frühen Siebzigern begreift sofort mein Desaster. „J’aimerais t’aider. Mais je suis trop fragile.“ Ja, sie ist wirklich zu schwach, um zu helfen. Aber Madame macht problemlos ihre Schwäche zur Stärke und findet innerhalb von Sekunden einen hilfsbereiten Jogger, der beherzt mit anfasst. Madame schiebt übrigens auch. C’est ça, c’est bon.

Bis auf einen Zentimeter genau fahre ich an die Kupplung ran. Immerhin, darin bin ich inzwischen Profi. Zwei Herren im fortgeschrittenen Alter begreifen die Situation nicht, fühlen sich aber verpflichtet, mich höflich darauf aufmerksam zu machen, dass hier streng kontrolliert wird. Tatsächlich?

Au revoir, Avignon. Ich habe deine historischen Mauern nicht betreten, behalte dich dennoch in schimmernder Erinnerung.

Am neuen Ziel, eine gute halbe Stunde später, begrüßen mich acht riesige Abfallcontainer. Und ein spektakulärer Blick auf einen See.

Ähnlich wie in le Verbamont fühle ich mich augenblicklich am richtigen Ort. Andächtiges, erleichtertes, glückliches, innerliches Seufzen.

Und kaue dann doch innerlich auf den Nägeln, weil ich nicht reserviert habe, und der Mann aus dem Saarland alle Zeit der Welt hat, um der burschikosen Brillenträgerin mit den kurzen braunen Haaren an der Rezeption stolz zu erklären, seit Jahren für wenigstens eine Woche hier zu sein, dieses Mal aber nur zwei Tage, weil…

Ein kugeliger Franzosen mit breitem, schneidezähnelosem Lächeln watschelt herein und entschuldigt sich, mit seinem Wohnmobil und Autoanhänger vorgedrängelt zu haben. Pas de problem, Monsieur, sage ich lässig und denke, er sieht aus wie Christophe, der polnische Maurer, den Tom beschämend schlecht für wirklich großartige Arbeit bezahlt hat.

Saarland verabschiedet sich und Erika lächelt mich aus schwarz umrandeten Augen an. Obwohl sie seit 20 Jahren hier lebt, höre ich sofort, dass die Ex-Camperin aus dem Ruhrgebiet kommt. Und weil sie diese rückwärts-einparken-Katastrophen kennt, überlässt sie mir die Stellplatz-Wahl.

Raluca kriegt jetzt ihren Auslauf und wir schlendern über den vermeintlich kleinen Platz, der gut belegt ist. Neidisch schiele ich auf den mit der Nummer 20. Groß genug, dass ein Trecker wenden könnte. Es parken da ein uralter VW-Bus und ein mindestens dreißig Jahre alter Wohnwagen inklusive genauso historischem Volvo. Am hölzernen Picknick-Tisch, den schützenden Hang im Rücken, hocken zwei Pärchen, bei denen ich sofort Aussteiger, alternativ, links, vegan, anti-autoritär denke. Entspanntes frühstücken mit den ingesamt fünf Kindern. Dann eben doch die schattige Nummer 7. Aber was sagt da Erika? „Platz 20 wurde gerade bezahlt. Innerhalb der nächsten Stunde kannst du ihn haben. Für wie lange?“ Ich sage eine Woche und meine, bis sie mich rauswerfen. Das wird am 5. November sein.

Als ich von einem Rundgang durch hüfthohe Rosmarinbüsche und kniehohe Thymianpuschelfelder komme, habe ich nur einen Bruchteil des Campingplatzes gesehen, der vom streitlustigen und dem Wein sehr zugeneigten, inzwischen aber verstorbenen Monsieur Mustache vor mehr als vier Jahrzehnten gegründet und betrieben wurde. Der kleine, gedrungene Monsieur Mustache, erzählen die Schweizer Kletterer von Platz 26, habe in ihrem Beisein vor über fünfunddreißig Jahren mal einen jungen Kletterer buchstäblich mit dem Besen vom Platz gejagt. „Uns selber hat er damals als Nazis beschimpft.“ Woraufhin die beiden erst nach dem Tod von MM Anfang 2000 wieder regelmäßig zum klettern ins Vallée Heureuse kommen.

Wenn doch dieses Tal und dieser Platz nur Geschichten erzählen könnten. Bücher ließen sich schreiben. Fortsetzungsromane. Eine Netflixserie oder oder oder… Abgesehen davon ist die Atmosphäre perfekt, um durchzuatmen und die aufgestaute Avignon-Aversion zu vergessen. Erika freut sich aufrichtig über meine restlose Begeisterung – und Dankbarkeit, ohne Reservierung den schönsten Platz von allen bekommen zu haben. „Hier sind inzwischen so viele Urlauber, die eine schräge Vorstellung vom Camping haben.“

Da wird genörgelt (vermutlich in erster Linie die mit den megateuren Wohnschlachtschiffen), dass nicht rund um die Uhr heißes Wasser zur Verfügung steht, die Plätze zu klein sind, die Toiletten nur zwei Mal am Tag gesäubert werden. Natürlich in erster Linie schriftlich und anonym. Herrgott, wenn ihr Luxus wollt, dann bezahlt Luxus und geht ins Hotel, ihr Ignoranten.

Die letzten Tage waren die Pest. Jetzt ist das Leben wieder freundlich. Hier im Tal der Glücklichen besonders. Wo sich übrigens im Jahr 1720 während der letzten Beulenpest in Westeuropa (Die Große Pest von Marseille) einige Einwohner aus Orgon verschanzten, um dem schwarzen Tod zu entgehen. Sie schotteten sich ab, ließen niemanden herein – und überlebten.

Seitdem heißt der Ort La Vallée Heureuse.

https://www.camping.info/de/campingplatz/camping-la-vallee-heureuse

https://www.campingcard.com/de/

https://de.wikipedia.org/wiki/Große_Pest_von_Marseille