Schocknachricht aus Moskau

Abgeschnitten von der Welt. Allein mit den wirbelnden Gedanken um Madame Dubois, Mary Stewart, François-Anne de Bellejour, Kayserling. Dem Karussell der halbherzigen Vermutungen, der wilden Spekulationen ausgesetzt, ohne irgendetwas überprüfen zu können. Wenigstens Raluca ist glücklich. Ich beneide sie um ihre Kondition. Bergziegig springt und tobt sie ohne jegliche Ermüdungserscheinungen über das Geröll, klettert übermütig auf Felsen und thront dann stolz und wachsam auf irgendeinem Monolith und fixiert wen oder was auch immer. Sie entwickelt sich zu meinem Rundumschutz. Ist dieses Menschen gegenüber so unsichere Tier schlicht ein Karpatenhund?
Während wir schon morgens lange Ausflüge ins Gebirge unternehmen, denke ich über das Campen nach. Wie ursprünglich es mal war. Kein Strom, nur Gas und Kerzen statt Klimaanlage, Kühlschrank, Kaffeemaschine und Satellitenschüssel für das allabendliche Fernsehbild. Campen war Urlaub für den kleinen Geldbeutel. Und heute?
„Wir sparen uns die Hotelkosten und sind mitten in der Natur“, sagt die belgische Rentnerin von gegenüber, an deren acht Meter langem Wohnhaus auf Rädern – natürlich inklusive Mikrowelle und DVD-Player – nachts die Neonbeleuchtung über der Tür den halben Platz in gleißendes Licht taucht. Wozu eigentlich?

Sie lächelt mich an, schenkt mir drei frisch gepflückte Kakis („Die wachsen hier doch überall.“), und schwingt sich auf ihr E-Bike, um entspannt ins 26 Kilometer entfernte Saint-Rémy-de-Provence zu radeln. Und ich weiß, ich sollte mal über Toleranz nachdenken. Ich finde sie trotzdem schlimm, diese Menschen, die vom eigentlichen Sinn des Campings soviel Ahnung haben wie ein Rotkehlchen von Quantenphysik.
Schlimm ist hier aber vor allem mein Internet, das sich ohne Ankündigung verabschiedet. Erika bietet mir den Platz vor der Rezeption an, wo schon der italienische Reiseradler sitzt und seinen nächsten Stopp plant. Aber dann bricht das Netz endgültig zusammen. Inzwischen ist hier seit zwei Tagen erzwungener digital detox. Die Hölle. Als ich runter nach Orgon fahre, weil ich dringend einen Intermarché brauche, habe ich keine Nachricht von François-Anne, dafür sieben von Mary Stewart – und vierzehn seit gestern von Tom. Er bittet mich mit jeder Sprachnachricht nachdrücklicher zurückzurufen. Dringend!
„Melde dich endlich bei deiner Mutter, Klara!“, bellt er in der von heute morgen. Sein Ton ist nicht nur unverschämt, sondern passt nicht zu ihm. Alarmiert wähle ich die Nummer meiner Mutter, die mir sofort vorwirft, nie erreichbar zu sein, wenn es mal wirklich drauf ankommt. Immer lasse ich sie im Stich, sie kann das alles nicht, wozu ist denn Familie da, wenn man sich nicht darauf verlassen kann? Sie erwartet, dass ich, egal, was ich gerade tue, alles stehen und liegen lasse. Sie braucht mich. Jetzt. Sofort!
„Dein Vater hat eine Affäre“, ruft sie in höchster Shakespeare-Qualität. „Ich werde ihn verlassen und versuch gar nicht erst, mir das auszureden. Er ist so ein unglaublicher Egoist…“. Mein Vater hat eine Affäre. Deswegen muss ich meine Mutter anrufen? Meine Mutter, die ständig irgendwelche Liebhaber hat?
„Mama“, versuche ich ihren Redefluss zu unterbrechen. „Wo seid ihr überhaupt?“
„Ich bin natürlich im Hotel“, zetert meine Mutter, „nachdem ich die halbe Nacht in der Notaufnahme gefroren habe. Unfassbar, diese Zustände. Wozu ist man denn Privatpatient, wenn sie einem nicht mal…“.
„Wo seid ihr, Mama? In welcher Stadt?“
„Natürlich in Moskau“, sagt meine Mutter, empört, dass ich ihren Tourneeplan nicht im Kopf habe.
„Was ist mit Papa?“
„Das habe ich doch gesagt – auf der Intensivstation. Er hatte einen Schlaganfall.“
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