Kunst gegen die Unruhe

Der Gedanke an den Tod meines Vaters macht mich wütend. Erst vor ein paar Wochen habe ich Pelle verloren. Noch immer verdränge ich diesen Verlust, der mir zeitweise den Atem nimmt. Deswegen werde ich auf keinen Fall in Betracht ziehen, dass mein Vater im Sterben liegen könnte; was es bedeuten würde, ihn jetzt auch zu verlieren. Er ist die einzig verbliebene Konstante in meinem Leben. Mit nicht mal siebzig viel zu jung, um jetzt schon…

Und wenn ich morgen früh nach Paris aufbreche? Ein Flug nach Moskau dauert etwa vierundzwanzig Stunden, würde mich knapp 4.800 Euro kosten. Von Orgon bis zum Charles de Gaulle sind es 752 Kilometer. Ohne Wohnwagen innerhalb eines Tages zu schaffen. Aber selbst wenn ich Little Miss Sunshine hier stehen lassen könnte, zumindest bis zum 5. November: was wird mit Raluca?

Gefühlt am anderen Ende der Welt kann ich im Moment nichts weiter tun, als warten und hoffen und beten. Also hoffe und bete ich, während Erika wartet. Heute den dritten Tag. Immer noch gleichmütig, immer noch auf den Techniker. „Mich aufzuregen bringt ihn auch nicht schneller her.“

Wie mir gelassene Menschen auf die Nerven gehen. Vor allem, wenn sie recht haben.

Wer mit einem fünfundfünfzig Jahre alten Wohnwagen unterwegs ist, kann glaubwürdig versichern sich in der digitalen Steinzeit wohl zu fühlen. Dennoch treibt mich die Internet-Abstinenz vom Campingplatz. In Orgon ist zwar wieder voller Empfang, der Ort selber aber zu hässlich, um sich dort die Zeit um die Ohren zu schlagen. Auf gehts nach Saint-Rémy-de-Provence, keine 15 Kilometer entfernt.

Der Markt – enttäuschend klein. Der Bummel durch die schmalen Gassen, vorbei an den unzähligen Konsumtempeln (vor allem hochpreisige Kleidung und Schmuck), langweilt mich. Alles zielt auf Touristen mit viel Geld ab. Touristin bin ich, Geld habe ich. Was mir fehlt, ist die Bereitschaft 690 Euro für ein Paar – zugegeben sehr hübsche – goldene Ohrringe mit je einer winzigen Perle auszugeben. Vor meiner Entscheidung gegen Tom und unseren dekadenten Lebensstil hätte ich nicht mal nach dem Preis gefragt, sondern einfach eine meiner Kreditkarten rübergereicht.

Mir fehlt die Ruhe, in einem der Straßencafés ein pan au chocolate zum Champagner zu bestellen. Lieber fahre ich weiter nach Les-Beaux-de-Provence, eine Empfehlung von Erica gleich am ersten Tag. Unterwegs nehme ich Toms Anruf entgegen und versichere, in Ordnung zu sein. Ich weiß, dass er weiß, dass ich lüge. Und er weiß, dass ich weiß, dass er mehrfach täglich mit meiner Mutter spricht.

„Kann ich wirklich nichts für dich tun?“

„Nein“, sage ich gerade noch freundlich, „aber danke, dass du fragst.“

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Les Beaux ist genau das, was ich jetzt brauche, dafür Raluca in kompletten Stress versetzt. Aber als Gast in diesem Land werde ich sicherlich nicht die Leinenpflicht ignorieren. Genauso wie ich selbstverständlich fürs parken bezahlen möchte. Das Rätsel um das Ticket-System löse ich erst nach einigen Minuten: das eigene Autokennzeichen eingeben, fünf Euro für die erste, und jeweils einen Euro für jede weitere Stunde bezahlen. Gerne auch in klingender Münze. Voilà.

Zwei Stunden, werde ich zu spät feststellen, sind viel zu kurz.

Wie erwartet, opfert Les Beaux seine zauberhafte Mittelalteratmosphäre rücksichtslos dem Konsum – die Touristen stapeln sich in unzähligen Restaurants und Cafés, verstopfen die steilen, kopfsteingepflasterten Wege, quellen aus winzigen Geschäften mit den üblichen Souvenirs wie Seife mit Lavendelduft, Schneidebrettern aus Olivenholz, Bonbons und Klamotten und Tongeschirr in zurückhaltend schlicht oder schreiend bunt. Die komplette Reizüberflutung. Unvorstellbar, wie wuselig es in der Hauptsaison hier ist.

Nur im oberen Teil des winzigen Ortes ist es möglich, eine Vorstellung von der eigentlichen Schönheit dieses Kleinods zu bekommen. Der zwanzigminütige Gang durch das überlaufene Les Beaux erschöpft Raluca genug, dass sie freiwillig ins Auto zurück will. Und ich marschiere bergan zu den riesigen, ehemaligen Steinbrüchen Carrières des Lumières. Mein Presseausweis macht mich zum VIP – kostenloser Eintritt, der mich berechtigt, jederzeit rein- und raus zu dürfen.

Es sei wie Alice im Wonderland, wird mir an der Kasse versprochen. „Genießen Sie es, Madame, lassen Sie sich verzaubern. Nur keinen Stress.“ Viel zu viele Menschen, ist mein erster Gedanke. Wieso müssen Eltern mit Säuglingen und Kindern, die kaum laufen können, in eine solche Ausstellung? Es wird viel geweint und gejuchzt und gerannt und geklettert. Normalerweise würde ich flüchten.

Eine ähnliche Ausstellung habe ich vor Jahren in Berlin gesehen und in Lutherstadt. Diese hier ist spektakulärer, unbeschreiblich faszinierend. Aufwühlende Musik zu den sich aufbauenden, schwebenden, ineinander fließenden Farben, die zu den berühmten Bildern werden, lässt meinen Blick verschwimmen. In Tränen sehe ich, wie von Vandermeer gemalte Blumen zum Leben erwachen, erblühen und in die Höhe und die Weite wachsen und etwas in mir krampft sich ob dieser unbeschreiblichen Schönheit zusammen.

*

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Es bleibt wenig Zeit, diese viel zu kurze Stunde zu begreifen. Kaum wieder unter sommerblauem Himmel, hat mich das Leben jenseits der Kunst zurück.

„Klara, warum lässt du Tom uns nicht helfen? Er könnte dir doch einen Flug buchen. Du könntest schon längst hier sein. Wann kommst du endlich?“, jammert meine Mutter und ich reagiere gereizt mit der Gegenfrage, was die Ärzte sagen. „Woher soll ich das wissen? Sie sprechen nicht mit mir.“

Vermutlich lässt meine Mutter wieder die Diva raushängen, statt höflich um Auskunft zu bitten. Es kann nicht sein, dass niemand in einem Moskauer Krankenhaus englisch spricht. Doch als ich endlich jemanden erreiche, leiste ich stumme Abbitte bei meiner Mutter. Und weiß, dass ich jetzt Toms Hilfe brauche. Wenn jemand jemanden kennt, der dolmetschen kann, dann mein Noch-Ehemann.

„Ich melde mich“, sagt Tom.

Während er sich kümmert und meine Mutter die Situation in irgendeinem Luxushotel vermutlich in Wodka pur ertränkt, bringt Raluca mich in Lebensgefahr.

https://de.wikipedia.org/wiki/Saint-Rémy-de-Provence
https://www.lesbauxdeprovence.com
https://www.carrieres-lumieres.com/fr