Steinschlag

In wütender Verzweiflung umklammere ich einen dünnen Baumstamm. Meine Wanderschuhe finden keinen Halt. Immer wieder rutschen sie ab, lösen kleine Steinlawinen aus. Nur keine hektischen Bewegungen, keine Panik, nicht strampeln! Mein Keuchen klingt bedrohlich atemlos. Wie konnte ich nur in diese ausweglose Situation kommen? In über 300 Metern Höhe. Raluca ist weggelaufen. Deswegen drohe ich abzustürzen. Mistköter!

Eine Stunde vorher.

Vor dem Château Romainin liegt das Gelände vom Aero Club de Sant-Rémy les Alpilles. Von einander getrennt durch ein kleines Wäldchen, hinter dem die Weinberge vor der Ruine des Châteaus liegen. Ich höre Gelächter, Stimmen.

Minuten später stecke ich im amüsanten Smalltalk mit den Freundinnen, jeweiligen Mehrfachmüttern und Millionärsgattinnen Angelina, Carrie und Jessica aus Vancouver, die mit ihren Ehemännern John, Jim und Tim (kein Scherz!) mal eben nach Paris zu irgendeinem Viertel- oder Halbfinale im Baseball geflogen sind, jetzt vier Tage mit dem Taxi durch die Provence kurven, um danach zum Halbfinale oder Finale erneut nach Paris zu fahren. Sonntag gehts dann zurück nach Kanada.

Die drei Vancouver-Girls und ihre Männer warten nach einer zweistündigen Weinprobe überdreht auf ihren Fahrer. Als ich mit Raluca auf dem Weinberg auftauche, geht Angelina sofort in die Hocke. Good girl, so beautiful, oh, you are affraid, but you don’t have to. Und Raluca, überfordert von soviel freundlicher Zuneigung, lässt sich nach wenigen Augenblicken tatsächlich von ihr streicheln. Carrie fragt mich, ob ich wisse, was das für ein Baum sei und deutet auf einen großen Haselnussstrauch. Oder ist es eine kleine Eiche?

„Frag mich, wer in Hollywood mit wem schläft, wer wen mit wem betrügt“, sage ich grinsend, „aber frag mich nicht nach Pflanzen.“

Oh, great“, zwitschert Carrie, „you are a gossip-girl, too.

Es gibt keine zwei Meinungen: Amber is a real bad bitch, die Johnny übelst reingelegt hat, und Brad kann froh sein kann, dass er die Borderlinerin Jolie endlich los ist. Übergangslos schwärmt Carrie von Vancouver, ein wunderbarer Ort. Nicht so groß, viel Natur, so viele Sportmöglichkeiten, so viel gesundes Essen. Probleme mit schlechter Schulbildung? Ach, was. Exorbitante Mieten? Nein. Alles ganz großartig! Das Leben ist leicht und mühelose und we’re having so much fun. Jeder Tag ist toll. Jetzt, hier in Frankreich zu sein, ist toll. Tolles Land, tolle Menschen, toller Wein, tolle Städte. In den Louvre? Ach, nein, sagt Angi, und krault Raluca, sie will ja alles mögliche sehen – aber nur von außen, sonst reicht die Zeit nicht.

Auf die Frage, was ich eigentlich hier mache, erzähle ich von Madame Dubois. Die drei Hausfrauen, die viel Zeit beim Sport verbringen, sind begeistert von meiner Mission und wollen sich das Buch unbedingt kaufen, sobald es auf dem Markt ist. Ohne Übergang lästern Angi, Carrie & Jessy dann über ihre Ehemänner, die nichts, aber auch gar nichts im Haushalt tun. Sie beneiden mich um meine Trennung von Tom und bieten mir einen 3:1 Deal an: ihre Männer gegen Raluca, und schütten sich aus vor Lachen, während ich mich wie in einer amerikanischen Sitcom fühle und denke, wenn der Grad der Zuneigung (oder des schlechten Gewissens) in Karat gemessen wird, dann werden diese Frauen von ihren Männern geradezu vergöttert. Wahlweise aufs schamloseste betrogen.

Als die sechs im schwarzen Großraumtaxi ins Tal fahren, übernimmt Raluca die Führung. Immerhin hat sie Jim (oder Tim?) nur kurz angeknurrt, aber nicht nach ihm geschnappt. Widerstandslos hat sie sich die Ohren zerzausen und als Schäferhund-Mischling titulieren lassen. Übermütig galoppiert sie jetzt los, bleibt nach wenigen Metern an dem Weg stehen, der mir zum Verhängnis werden soll.

*

Während der zunächst romantisch anmutende Pfad durch einen Tunnel aus dicht stehenden Büschen und Bäumen vermeintlich zum Château führt, höre ich wieder das undeutliche Nuscheln meines Vaters. Seine Stimme klingt, als hätte er einen Waschlappen im Mund.

Er hatte tatsächlich einen Schlaganfall.

Glücklicherweise nur einen leichten. Mit entsprechender Reha und viel Geduld sollte er nahezu komplett wieder hergestellt werden können. Obwohl er sich in der Botkin-Klinik sehr gut aufgehoben fühlt, will meine Mutter seine Verlegung nach Deutschland. So schnell wie möglich.

„Es ist vorbei, Kiki.“

Kiki. Seit meinem Abitur hat er mich so nicht mehr genannt. Kiki war immer sein Codewort für ein großes Geheimnis, das er mir anvertraut hat. Mit welchem Solisten er als nächstes auftreten, welches Orchester in welcher Konzerthalle er dirigieren würde. Für welchen Preis er mal wieder nominiert war. Was er meiner Mutter zum Geburtstag, zu Weihnachten, zum Hochzeitstag, einfach nur so schenken würde.

Ich rufe nach Raluca. Das Blätterdach hat sich gelichtet, doch das Château ist noch nicht zu sehen. Der weiche Waldboden ist dem typisch hellen Schotter gewichen, der Molasse, ein leicht zu bearbeitender Kalkstein, der seit der Antike übrigens in Les Beaux abgebaut wurde. Hinter der nächsten Biegung wartet Raluca. Als sie mich sieht, läuft sie mit erhobener Rute weiter. Ich folge, noch immer in der Annahme, gleich das Ziel erreicht zu haben.

„Ich werde nicht zurück ans Pult können.“

Nie klang mein Vater zerbrechlicher. Nie wieder wird er ein Orchester dirigieren? Unvorstellbar. Das wird wieder, Paps, aufgeben ist keine Option, will ich sagen, und schweige. Mein Vater hasst Phrasen. Heischt nicht nach Mitgefühl oder ist selbstmitleidig. Schon bei unserem allerersten Telefonat verbietet er mir, mit dieser seltsam fremden, und doch so vertrauten Stimme, mich um ihn zu sorgen. „Denk nicht mal darüber nach, nach Moskau zu kommen. Genieß deine Tour, finde diese Madame Dubois.“

Ich hatte ihm noch nichts von meinem Auftrag erzählt. Der passende Moment fehlte bislang. Tom, denke ich wütend und gleichzeitig erleichtert. Bevor ich reagieren kann, setzt mein Vater hinzu: „Ich werde deine Mutter verlassen.“

Endlich kann ich meinen Fuß hinter den dünnen Baumstamm klemmen. Endlich bekomme ich Halt und ziehe mich hoch. In eine weniger schmerzhafte, weniger beängstigende Position. Immerhin in dem Gefühl, leidlich in Sicherheit zu sein. Nicht mehr abzustürzen, bei der nächsten Bewegung. Wie bin ich eigentlich in diese beschissene Lage gekommen? Wieso immer weiter über das Geröll geklettert, am Ende praktisch auf allen Vieren? Immer nach Raluca rufend. Immer heftiger keuchend, schwitzend, verbissen.

Ein paar Mal war ich nahe daran abzurutschen, konnte mich aber jedes Mal im letzten Moment fangen. Bis jetzt. Meine Hose hat einen langen Riss über dem Knie. Meine Hände sind dreckverschmiert, wenigstens zwei Nägel abgebrochen, meine Stirn brennt, ich bin irgendwo hängengeblieben. Blut mischt sich in Schweiß und ich fluche vor mich hin. Raluca ist nicht zu sehen.

Wie ein Äffchen, das sich ins Fell seiner Mutter klammert, habe ich mich um diesen Baum geschlungen.

Konzentrier dich, bleib ruhig. Ruhig. Langsam. Konzentrier dich. Keine Panik. Du schaffst das!

Versuchsweise rufe ich um Hilfe. Innerlich. Wissend, das mich sowieso niemand hören würde. Da entdecke ich Raluca. Sie sitzt keinen Meter entfernt und lässt mich nicht aus den Augen. Obwohl sie schuld an der ganzen Misere ist, bin ich froh, dass sie da ist, mich nicht alleine lässt. Ich möchte wütend auf sie sein – und bin es nur auf mich. Es gab mehrere Momente, in denen meine Intuition mich höflich daran erinnert hat, dass ich meine beste Hose trage, nichts zu trinken dabei habe, dass das hier weit über einen Spaziergang hinausgeht. Ich hätte schlicht umdrehen müssen – Raluca wäre mir gefolgt.

Niemand weiß, wo ich bin, niemand wird mich vermissen. Niemand nach mir suchen. Ich brauche eine Ewigkeit, bis ich die Situation genug überdacht habe. Ich bin hier hoch gekommen. Dann komme ich auch wieder runter. Keine Panik. Konzentriere dich. Ganz ruhig. Langsam. Ein Schritt nach dem anderen.

Ich blicke zu Raluca, die mich immer noch unbeweglich wie die Sphinx fixiert. Während ich vorsichtig nach meinem Handy taste – ich werde den Notruf wählen müssen – erblicke ich es. Etwa zwei Meter unterhalb von mir liegt es zwischen den Steinen. Merde!

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