Erhoffte Einladung

Zu jung, um abzustürzen, hier in den Bergen zu sterben. Viel zu jung.

In einer Stunde beginnt die Dämmerung, in eineinhalb Stunden wird es dunkel sein. Ich habe nicht vor, dann noch hier zu sein. Plötzlich bin ich es. Ruhig. Klar. Lösungsorientiert. Weiß, wie ich wieder festen Boden unter die Schuhe bekomme. Es ist logisch. Nicht leicht, aber einfach. Eine Hand loslassen, um mich am nächsten Baum unter mir festzuhalten. Die Spannweite meiner Arme reicht dafür. Meine Füße verkeile ich in den Wurzeln. Dann die andere Hand loslassen, nachgreifen…

Zu konzentriert, um Angst zu haben, lasse ich los, vertraue meiner Kraft, meinen Händen, meinen Füßen – und es klappt! Vorsichtig angle ich nach meinem Handy. Sehe erst jetzt den überwältigen Ausblick über das Tal. Vergessen sind die Unsicherheit, die Angst. Vor Erleichterung lache ich laut auf.

Der Abstieg ist höchste Konzentration. Mein Kopf leistet automatische Mantra-Arbeit. Langsam. Konzentrier dich. Langsam. Konzentrier dich. Ohne zu straucheln, ohne auszurutschen geht es hinunter. Schritt für Schritt für Schritt. Nur ein einziger Blick zurück, nach oben.

Ich liebe mein neues, mein so unvergleichbar aufregendes Leben.

Raluca rennt wieder vor, aber immer nur wenige Meter, wartet auf mein weiter! Zügiger als erwartet sind wir wieder beim Weinberg. Dieses Mal geht es nicht durch das Wäldchen, sondern direkt auf das weite Feld. Raluca rennt, schlägt staubige Haken, als wäre sie die letzten zwei Stunden mit angezogener Handbremse unterwegs gewesen. Der Mond begrüßt uns, und ganz klein, hinten bei der Flugschule, wird mir beidarmig zugewunken. Die offensichtliche Erleichterung fremder Menschen ist mir ein bisschen peinlich. Vermutlich waren sie in Sorge, weil mein Auto schon seit Stunden da steht.

Der junge Winker mit dem Wuschelkopf lächelt freundlich und fragt: „Savez-vous ce que vous avez fait de mal?“ Habe ich noch einen Fehler gemacht, außer mich von Raluca in den Berg locken zu lassen? Unsicher verneine ich, obwohl ich im selben Moment ahne, dass ich nicht quer über die Rollbahn hätte laufen sollen. Richtig, zu gefährlich. Segelflugzeuge sind nicht zu hören, ich selber aus dem Cockpit nicht zu sehen. Statt darauf hinzuweisen, dass um diese Zeit keine Segelflieger mehr unterwegs sind, erkläre ich meine Situation (ich habe mich verlaufen, war in den Bergen und wäre fast abgestürzt etcetera) und entschuldige mich mehrfach. Kein Moment des Vorwurfs. Über die Schramme an der Wange, mein verschwitztes Aussehen und die zerrissene Hose schaut der junge Segelflieger höflich hinweg.

Noch zu sehr auf Adreanlin, um ein wirklich schlechtes Gewissen zu haben, ist mein excusez-moi dennoch aufrichtig zerknirscht.

Ein alter, groß gewachsener Schlacks mit Brille und Basecap versucht mich auf deutsch (!) zu einem Tandemflug zu überreden. Sonntag, vielleicht? Das ist ein Wink des Schicksals! Ich werde ab jetzt Dinge tun, vor denen ich schon immer, sagen wir Respekt, hatte. Raus aus der Komfortzone ist schließlich das Motto. In die Berge ohne entsprechende Ausrüstung – check. Als nächstes Segelfliegen – cool.

Natürlich passiert – wie immer – das Leben. Kurz bevor ich auf dem Parkplatz vom Intermarché in Orgon parke, um für Sonntag schriftlich den Flug-Termin zu vereinbaren, klingelt mein Handy.

Madame Klara? Bonjour, c’est François-Anne de Bellejour.