Unerwartete Wendung

Vier kleine Kinder?
Verwirrt und mit dem nagenden Gefühl, viel zu viel Zeit verschwendet zu haben, hatte ich das Bademodengeschäft verlassen, um dann unschlüssig mit Blick auf die blaue Weite am Kai zu stehen. Das Meer hatte gerauscht, ein junges, makelloses Pärchen sich wie in einem Werbespot geküsst.
Eine Ewigkeit hatte ich sie alle beobachtet, die Jugendlichen, die sich in die Brandung warfen, die alte Frau mit den lila schimmernden Haaren im blauen Badeanzug, den Glatzkopf, dem der Bauch über die Badehose hing, Eltern mit ihren Kindern, Paare, Singles. Sie alle hatten im Sand gesessen oder waren im Wasser, während ich mich erschöpft fragen musste, wie und ob ich weitermachen wollte:
Zum Haus am Meer, und mich davon überzeugen, dass die dort lebende Madame Dubois wirklich nicht die sein konnte, die ich seit Wochen suchte? Kayserling anrufen und das Projekt canceln? François-Anne kontaktieren und um Hilfe bitten? Weiter warten, dass Madame Dubois sich endlich, wie vor Wochen angekündigt, melden würde?

Vor fünf Tagen hätte ich das erste Kapitel abgeben sollen. Kayserling heute Mittag reinen Wein einzuschenken, ist mir schwer gefallen. Aber er hat erstaunlich gelassen reagiert. Keine Vorwürfe, kein erneuter, ungeduldiger Hinweis auf Mary Stewart, keine Drohung, mir den Auftrag zu entziehen, kein subtiler Hinweis auf eine fällig werdende Konventionalstrafe.
„Kein Stress, Klara. Qualität braucht ihre Zeit.“ Kayserling war auf dem Weg zur Themenkonferenz und will sich die Tage noch mal melden.
Wäre Misstrauen jetzt die richtige Reaktion oder sollte ich schlicht dankbar für den Aufschub sein?
Die Halsschmerzen werden mit jeder Stunde unangenehmer. Silicea C30 pur gelutscht, mit Salzwasser gegurgelt. Das Krankheitsgefühl ist rein körperlich. Mein Verstand ist klar, mein Hirn arbeitet auf Hochtouren.
Während ich jetzt sanft in der Hängematte schaukle, Raluca zusammengerollt zwischen den Sträuchern im trockenen Gras liegt, rufe ich mir meine Begegnung mit Julie Dubois und ihrer Mutter vor zwei Tagen wieder und wieder ins Gedächtnis. Hinterfrage kritisch meine Euphorie, klopfe jeden Satz gründlich auf Widersprüche ab.
Juli, vierfache Mutter, barfuß, im hellen Maxikleid, mit sehr langen, wilden, dunkelbraunen Locken, hatte mir versichert, sich sehr geschmeichelt zu fühlen, wenn ich ein Buch über sie schreiben würde. Allerdings sei das aufregendste, was es über sie zu erzählen gäbe, dass sie mit der Liebe ihres Lebens vor zehn Jahren begonnen hat, eine Familie zu gründen und im Frühjahr ihr fünftes Kind erwartet.
„Es tut mir sehr Leid Sie zu enttäuschen, Klara, aber mein Mann ist ganz sicher nicht mit Ihrer Madame Dubois verwandt.“
Dann tauchte Julies Mutter Hélène auf, eine zynische Person, vielleicht Mitte siebzig, schwarz gekleidet, das grau melierte Haar zum strengen Knoten im Nacken gebunden, das Gesicht mit den hohen Wangenknochen von ungesunder Blässe. Unterstrichen von knallrotem Lippenstift.

„Maman, kennst du eine Jeanne-Catherine Dubois?“
Maman, eine ehemalige Theaterkritikerin, musterte mich abschätzend, bevor sie langsam naturellement, bien sûr sagte.
Und dann erfuhr ich genug über Madame Dubois, um nicht nur das erste Kapitel schreiben zu können.
Aber was wäre ich für eine Journalistin, würde ich die Behauptungen einer mir unbekannten Kollegin ungeprüft als Fakten annehmen?
Und doch. Endlich bekomme ich eine Ahnung, warum Kayserling dieses Buch so unbedingt will.