Narbonne im Sturm

Krank.

Ohne Raluca würde ich mich keinen Meter bewegen. Aber trotz aller Genügsamkeit muss sie zwei mal am Tag raus. Also schleppe ich mich morgens und am späten Nachmittag um einen kümmerlichen Weinberg, der ein kümmerliches Weinfeld ist. Vorbei an einer traurigen Koppel mit vier Pferden, vorher noch vorbei an einem verwahrlosten Grundstück, auf dem ein Hund an einer Kette in einem Hänger sitzt und 24 Stunden ununterbrochen bellt. Über den Zaun klettern und das arme Vieh befreien?

Fieberträume.

Krank in Colombiers.

Husten, Hals- und Kopfschmerzen, Fieber. Grau, Regen, dreckige Sanitäranlagen. Acht paracetamolähnliche Schmerztabletten. Acht Stück für fünf Euro. Zwei in zwölf Stunden. Drei komplette Tage fast nur geschlafen.

Am vierten Morgen bin ich endlich fieberfrei, will weiter nach Süden. Aber überall Orkanwarnungen. Im Westen Frankreichs, im Norden Spaniens. Weiterfahren? Wahnsinn. Genau wie der Ausflug nach Narbonne purer Irrsinn ist, überflüssige Blödsinnsidee. Aber mir fällt die Wohnwagendecke auf den Kopf.

Eigentlich will ich zum Badeort Narbonne Plage – der ist aber weitere 80 Kilometer zu fahren. Der Wind zerrt, armdicke Äste liegen auf der Straße. Beim nächsten Kreisverkehr fahre ich zurück, finde einen Parkplatz und will mir Narbonnes historischen Stadtkern angucken.

Raluca ist schon beim aussteigen vor dem Kunstmuseum maximal gestresst. Flatternde Bauplanen, quietschende Baugeländer und das brodelnde Wasser des innerstädtischen Canal de la Robine. Der Wind zerrt, Nieselregen setzt ein und hört wieder auf. Spaß ist was anderes.

Am Ende wird es ein überaus halbherziger Besuch der historischen Innenstadt. Die wenigen Geschäfte, die es gibt, sind über Mittag geschlossen. Kaum Touristen, noch weniger Einheimische. Über allem erhebt sich die nie fertig gebaute Kathedrale Saint-Just et Saint-Pasteur aus dem 13. Jahrhundert. Aber mich beeindruckt heute sowieso nichts. 

Obwohl doch noch die Sonne rauskommt und Urlaubsatmosphäre vorgaukelt, erkläre ich nach fünfundfünfzig ziellosen Minuten den Ausflug für beendet und es geht zurück zum Campingplatz nach Colombiers.

Zurück im Wohnwagen, bei Tee und heißer Zitrone, rekapituliere ich, was Hélène über Madame Dubois erzählt hat. Finde keinen einzigen Beleg für das, was die einstige Theaterkritikerin aus Cassis behauptet. Keinerlei Beweise dafür, dass Madame Dubois im Alter von 19 Jahren einen knapp dreißig Jahre älteren Filmproduzenten geheiratet hat. Dass sie einen Liebhaber in den Tod getrieben hat. Mindestens sechs Fehlgeburten hatte, ihr einziger Sohn im Alter von zwölf Jahren tödlich verunglückte.

Angestrengt beginne ich dennoch das Vorwort zu schreiben. Fabulieren trifft es wohl eher. Denn ich lasse meine Phantasie sprudeln. Zaghaft erst, doch schon nach einer Stunde wird aus dem plätschernden Rinnsal ein beachtlicher Bach und dann ein Strom, der nicht mehr abzureißen gedenkt.

Jeanne-Catherine Dubois, schreibe ich trotzig, hatte einen Vaterkomplex und war gleichzeitig eine femme fatale, eine schwarze Witwe, eine Gottesanbeterin, die ihre Männchen vernichtete. Eine tragische Gestalt, die dem Schicksal trotzte. Laut Hélène war Madame Dubois fünf Mal verheiratet, vier Mal mit demselben Mann, Alain Dubois, einem schwerreichen Magnat, beinahe doppelt so alt wie Jeanne-Catherine, die für den Laufsteg viel zu klein war, aber als Aktmodell einen gehörigen Skandal lostrat. Ähnlich wie einst Norman-Jean Baker, bevor sie zu Marilyn Monroe wurde.

Mit dem kleinen, feinen Unterschied, dass Jeanne-Catherine Dubois offensichtlich überaus selbstbewusst war. Je länger ich über sie nachdenke, desto mehr wird sie zu einer meiner literarischen Lieblingsheldinnen, Scarlett O’Hara.

Doch ist Madame Dubois tatsächlich über Leichen gegangen, um ihr eigenes Überleben zu sichern? Gab es einen Rhett Butler in ihrem Leben? Einen Ashley Wilkes? Hat sie aus purer Berechnung geheiratet? Oder war sie schlicht hoffnungslos romantisch? Ich beschließe, letzteres zu glauben.

Mit verbissener Systematik durchpflüge ich erneut das Internet. Und finde nichts. Madame Dubois bleibt ein Phantom. Ihre Geschichte eine Geschichte. Legendenbildung auf französisch?

Wer verdammt noch mal ist Madame Dubois? Warum meldet sie sich nicht?

Mein Nacken beginnt zu schmerzen, meine Augen im Licht der Gaslampe zu brennen. Kurz vor Mitternacht lösche ich die sechs Seiten erdachtes Leben. Fluchend und mit einem unangenehmen hohen Summen im Kopf raffe ich mich zur letzten Hunderunde des Tages auf.

Es nieselt wieder. Der Hund auf dem verwahrlosten Grundstück – immer noch angekettet, bellend. Raluca bleibt vor dem Zaun stehen und der Strahl meiner Taschenlampe durchschneidet die Nacht.

Bevor ich schließlich unter meine beiden Decken schlüpfe, checke ich ein letztes Mal meine Mails. Keine Nachricht von Mary Stewart oder François-Anne de Bellejour oder Kayserling. Auch nichts von meinem Vater oder Tom, was beunruhigend sein könnte. Aber ich habe beschlossen, dass keine Nachrichten gute Nachrichten sind.

Der Sturm ist endlich eingeschlafen, die Wetterprognose für morgen ist günstig. Spanien wartet. Egal, was kommt, morgen gehts weiter. Während ich die Weckzeit im Handy programmiere, leuchtet plötzlich das Display. Es ist 23.58 Uhr, Batteriestatus 13 Prozent. Der grüne Hörer fordert mich auf, den Anruf von Anonym entgegen zu nehmen.

https://de.wikipedia.org/wiki/Narbonne

https://de.wikipedia.org/wiki/Colombiers_(Hérault)