Zwangspause in den Vogesen

Empört. Sprachlos. Ratlos. Aber zu überrascht, um auszuflippen.

Nicht, dass ich ernsthaft Ahnung von Autos hätte, aber wenn ein vollgetankter Wagen nicht mehr anspringt, kann es doch nur die Batterie sein? Verdammt noch mal! Vor mir liegen immer noch 940 Kilometer! Ich hätte es schaffen können. Nach Berlin. Irgendwie. Bis Sonntagmittag.

Wenigstens habe ich Glück im Unglück. Gestrandet keine acht Kilometer entfernt von La clairière du Verbamont, dem wunderbaren Waldcampinplatz, auf dem ich vor wenigen Wochen mit Cécile und René am Lagerfeuer frische Maronen gepult, Wein getrunken und über das Leben philosophiert habe.

Deren Weltenbummler-Sohn Christophe schleppt mit seinem Renault meinen Astra ins Atelier de réparation automobile von Fabienne. Die Mechanikerin lacht, alles halb so wild, sie bestellt mir eine neue Batterie, baut sie ein. Keine große Sache. „Un à trois jours, Madame“, sagt sie, würde es dauern.

DAS ist eine mittlere Katastrophe.

Und doch gluckst ein kleines Glücksgefühl in mir. Zurück in den Vogesen. Zurück in le Verbamont.

Dann schalte ich in den Profimodus. Hinterlasse in dem Berliner Hotel, in dem Madame Dubois wohnt, die Nachricht, unsere Verabredung leider nicht einhalten zu können und bitte um Rückruf.

Dank Christophe steht Little Miss Sunshine wieder an ihrem alten Platz unter den Bäumen. Die Stühle um das Lagerfeuer sind weg. Die Weiden beschnitten, viele Bäume kahl. Ihr buntes Laub liegt nass und schwer auf dem saftig grünen Rasen.

Es fühlt sich gut an, wieder hier zu sein. Als einzige. Es ist, als wäre ich nie weggewesen.

Christophe, schlank, zäh, runde Brille, die Haare auf drei Millimeter gekürzt, bedauert, dass er um diese Jahreszeit nicht mehr für Gäste kocht. Aber selbstverständlich kann ich die Außenküche benutzen, natürlich haben die Duschen noch heißes Wasser. Und sollte es mir zu kalt im Wohnwagen sein, könne ich sehr gerne in einer der Hütte wohnen. Spannend – ich hatte überlegt, ihn genau darum zu bitten. Danke ihm dann für das freundliche Angebot, ohne es anzunehmen. Ich schlafe wunderbar im Wohnwagen, wer weiß, wie oft in diesem Jahr noch?

Die Saison ist vorbei, daher kostet mich mein Aufenthalt nur das, was ich geben möchte. Wenn ich möchte. Ohne Muss. Ich könne spenden, sagt Christophe, der zu den Menschen gehört, die nicht von einem neuen Gesellschaftsmodell träumen, sondern es erschaffen und leben. Einfach so.

„Stay as long as you want, Klara.“

Das war vor drei Tagen.

Mein altes Ich hätte vermutlich rund um die Uhr nervös auf den Rückruf von Madame Dubois gewartet. Aber warten ist nie eine gute Idee. Warten ist Zeitverschwendung. Also genieße ich jeden Tag, laufe die vertrauten Wege und schließlich gehts zum ehemaligen Zisterzienserkloster im gerade mal drei Kilometer entfernten Droiteval. Es ist kalt, aber die Sonne scheint, der Himmel ist wolkenlos, der Wald leuchtet.

Und während Raluca ausgelassen im Zickzack durch den Wald tobt, überkommt mich tiefe Dankbarkeit für diese Zwangspause. Ich fühle mich entschädigt für die zu früh beendete Tour. Es ist, als würde sich ein Kreis schließen, als könne ich mich in Ruhe von Frankreich verabschieden.

Statt Madame Dubois ruft mein Vater an. Er langweilt sich bei der Reha. „Alles gut, mein Augenstern, ich halte durch. Sind ja nur noch vier Wochen.“

„Wo ist Mama?“

„Sie wollte nach Paris. Oder London“, sagt mein Vater mit einem spöttischen Grunzen. „Vermutlich ist sie in Rom.“

Ich frage nicht, ob sie es sich mit der Trennung noch mal überlegt haben. Ob sie dieses Mal die Scheidung nicht nur einreichen. Es ist so ermüdend, wenn Entscheidungen getroffen und im nächsten Moment wieder revidiert werden. Vor allem, wenn die eigenen Eltern es tun.

„Und du, Klara, wo bist du? Hast du deine Madame Dubois gefunden?“

„Ja“, sage ich und würde ihm gerne alles erzählen. Aber Kayserling ruft an. Ich verspreche meinem Vater mich schnellstmöglich zu melden und er wünscht mir viel Glück.

Kayserling ist nicht mal im Ansatz so aufgebracht, wie ich es befürchtet hatte. So scheint es jedenfalls zunächst.

„Madame Dubois ist, gelinde gesagt, empört, weil Sie das Treffen verschieben. Und ich bin irritiert. Klara, was ist los?“

Kayserling kann nicht gut mit Ironie. Also schildere ich knapp und sachlich die Situation.

„Was heißt das in Tagen?“

„Maximal drei.“

„Solange können wir nicht warten. Nehmen Sie sich einen Mietwagen. Fahren Sie zum nächsten Flughafen.“

„Charmante Idee“, sage ich, „aber Mietwagen gibt es hier keine. Und der nächste Flughafen ist in Strasbourg, so um die 160 Kilometer entfernt. Davon abgesehen habe ich einen Wohnwagen. Ach ja, und einen Hund, der nicht klein genug ist, um ihn auf dem Arm zu tragen.“

Kayserling stöhnt theatralisch, ich seufze innerlich und ahne, was als nächstes kommt.

„Machen Sie Druck in der Werkstatt, ich kümmere mich um den Rest.“

Ich verzichte auf den Hinweis, dass Druck nie das Mittel der Wahl sein sollte, wenn man auf eine Dienstleistung angewiesen ist.

„So machen wir das“, sage ich, hoffe, dass Kayserling mir meinen sarkastischen Ton nicht übel nimmt und bin gespannt, ob ich je erfahren werde, welche Geschütze der Verlag, beziehungsweise Kayserling auffahren werden, um Madame Dubois für ein paar weitere Tage in Berlin festzuhalten. Ob es gelingt, werde ich ja bald wissen.

Nach dem Gespräch schlendere ich in seltsam entspannter Gleichgültigkeit weiter über das Areal im Droiteval. Bedauere, niemanden anzutreffen. Und vor allem, dass alles offensichtlich Propriété privée ist. Nur gucken, nicht betreten.

Kurz vor der Dämmerung sind wir wieder zurück. Ich entzünde die Gasheizung im Wohnwagen, füttere Raluca und genieße die Ruhe und Einsamkeit. Koche in der Außenküche Rosenkohl, Möhren und Kartoffeln und schwenke sie in Butter angebratenem Kreuzkümmel und Gran Masala.

Bei Kerzenlicht und einem letzten Glas Chardonnay esse ich zu Abend. Und treffe kurz nach Mitternacht eine folgenschwere Entscheidung.

https://de.wikipedia.org/wiki/Kloster_Droiteval