Zeugnisse eines langen Lebens

Es hat die ganze Nacht geschneit.
Meine Neugierde lässt mich erst nicht einschlafen, dann weckt sie mich früh um fünf aus unruhigen Träumen. Raluca am Fußende des Bettes gibt das Eichhörnchen, das Gesicht fast vollständig von der buschigen Rute bedeckt. Sie blinzelt nur kurz, bevor sie mit einem tiefen Seufzen die Augen zusammenkneift.
Ich werfe einen Blick aus dem Fenster im ersten Stock in den riesigen Garten. Glaube in der gedämpften Beleuchtung der Terrasse Pfotenspuren eines Fuchses zu erkennen.
Stille hat eine Farbe.
Unfassbar, dass ich vor wenigen Tagen noch durch die herbstbunten Vogesen spaziert bin. Im Wohnwagen geschlafen habe, in einer Koje von gerade mal einsfünfundachtzig Länge, unter zwei Decken.

In dicken Wollstrümpfen tapse ich die Treppe runter, die sechste und siebte Holzstufe knarzen ebenso wie die beiden letzten unten. Seit Jahren habe ich kein Feuer mehr im Kamin gemacht. Glücklicherweise gibt es genug Papier, Anmachspäne und vor allem eine Packung Holzanzünder.
Ich schaue dem rotgelben Lodern hinter der Scheibe zu, höre die trockenen Tannenzapfen in der Hitze knallen. Schade, dass die tanzenden Flammen und ich durch Sicherheitsglas voneinander getrennt sind.
Natürlich habe ich geahnt, was mir die Urenkelin von Madame Dubois geschickt hat. Dennoch bin ich überwältigt. Minutenlang betrachte ich die Fotoalben, vergilbten Unterlagen, Briefe. Streiche behutsam, erst nur mit Blicken, dann mit den Fingerspitzen über die geheimen Schätze.

Öffne vorsichtig das erste Album, dessen knittriges Seidenpapier zum Schutz der farblosen Fotos leise raschelt.
Bilder einer großen Liebe, einer Hochzeit, verblasste, lückenhafte Erinnerungen an ein Familienleben, an Krieg. Zeugnisse eines vergangenen Lebens. Mein Herz klopft, als ich weitere Porträts von der blutjungen Madame Dubois finde.
Aber ist das junge Mädchen mit dem burschikosen Kurzhaarschnitt in der braven Schuluniform tatsächlich auch Madame Dubois? Es wird mühsam, die eckige Schrift zu den einzelnen Ereignissen ins Deutsche zu übersetzen.
Ich freue mich unbändig darauf.