Der Chauffeur

Durch knöcheltiefen Schnee sind Raluca und ich schon eine Stunde spazieren gewesen. Im Schlepptau überraschend nagende Nervosität. Und eine enervierende Stimme, die mir in Dauerschleife vorwirft, nie schlechter auf ein Interview vorbereitet gewesen zu sein.
Stimmt leider. Ich habe mit der Übersetzung der Dokumente und der Briefe ins Deutsche noch nicht mal angefangen. Lediglich einige Bildunterschriften in den Fotoalben entziffert.
Dafür wusste ich schon beim aufwachen, dass ich die Marlenehose mit Pünktchenbluse und Stiefeletten kombinieren will. Jetzt allerdings, eingehüllt in den zu großen Bademantel meines Vaters, halte ich meinen schwarzen Hosenanzug mit dem silbernen Statement-Collier der Künstlerin Bettina Fehmel für die bessere Alternative. Oder vielleicht doch das waldgrüne Winterkleid?
Kayserling ruft an, als ich das neue, nachtblaue Wickelkleid mit dem dezenten Ausschnitt bügle.
„Bin gleich in der Programmkonferenz. Wollte nur hören, ob es bei Ihrem Treffen mit Madame Dubois bleibt?“
„Auf keinen Fall“, sage ich. „Auf dem Silbertablett servierte Geschichten langweilen mich.“
Ein winziges Schnauben, das mit viel Wohlwollen als amüsiert klingend bezeichnet werden könnte, bevor Kayserling im besten Verlegerton sagt: „Ich will persönliche Tragödien, familiäre Katastrophen, die komplette Dramaklaviatur.“

„Aha“, mache ich.
„Alle Details“, sagt Kayserling, „so, als wären Sie…“.
„Kayserling?!“
„… ihre beste Freundin.“
„Und die lässt man ja bekanntlich nicht warten“, sage ich.
„Nein“, sagt Kayserling, „unter keinen Umständen. Was ich noch…“.
„Sorry, aber der Chauffeur ist da.“
„Verstehe. Gut. Immer dran denken, Klara: Bestseller!“
Idiot, denke ich und bin mit dem Bügelergebnis zufrieden. Mir bleiben noch zwanzig Minuten. Reicht, um das rote Wollkleid zu den hohen Stiefeln anzuprobieren.
*
Der Fahrer von Madame Dubois erinnert mich an den französischen Schauspieler Omar Sy. Groß, muskulös, Gesichtszüge wie gemeißelt, ansteckendes Lachen. Ich mochte ihn sehr in der Tragikkomödie Intouchables, nicht so sehr in Lupin.
„Mein Name ist Lucien“, sagt Lucien und öffnet mir die Wagentür.
„Meiner ist Klara.“
„Schon mal mit einem schwarzen Chauffeur unterwegs gewesen, Klara?“
„Soll das ein Test sein, Lucien?“, frage ich irritiert.
„Selbstverständlich“, sagt er und ich verliebe mich augenblicklich in sein strahlendes Lachen. „Also?“
„Das sind mir die liebsten.“
„Richtige Antwort“, sagt Lucien. „Ich wäre übrigens auch Chauffeur, wäre ich nicht schwarz. Schon mein Vater hat Madame Dubois gefahren.“
Es klingt stolz und ich frage, seit wann er selber für Madame arbeitet.
„Seit sechsundzwanzig Jahren, davon zwanzig als ihr persönlicher Assistent. Und ich habe noch keinen Tag bereut.“
Während der viel zu kurzen Fahrt erfahre ich nichts über Madame Dubois, dafür einiges über Lucien, der leider empörend diskret über seine Chefin schweigt. Keiner meiner üblichen Rhetorik-Tricks funktioniert. Auch mit Charme komme ich nicht weiter. Dafür plaudert Lucien kurzweilig über sein Heimatland Frankreich. In zwei Jahren will er seinen fünfzigsten Geburtstag mit seiner Familie feiern. In Rouen, seiner Geburtsstadt. Im Restaurant des Mannes seiner jüngsten Schwester.
„Wenn alle mein Geschwister, unsere Cousins und Cousinen und Onkel und Tanten und Neffen und Nichten und deren Kinder kommen“, sagt Lucien, während wir vor einem hohen schmiedeeisernen Gitter warten, dass es sich öffnet, „dann sind wir so um die hundertzwanzig Personen zwischen zwei und 97 Jahren.“
„Inklusive Madame Dubois?“
Lucien sagt, er werde sie einladen.
„Und? Wird sie die Einladung annehmen?“
Sein schweigender Blick in den Rückspiegel ist einen Moment zu intensiv – und ich erwidere ihn. Ich hatte vergessen, wie beflügelnd ein kleiner Flirt ist. Bedauere, dass die Fahrt schon vorbei ist, während ich warte, dass Lucien mir die Tür öffnet, weil ich weiß, dass es ihn kränken würde, täte ich es nicht.

Ich folge diesem ungewöhnlich attraktiven Beinahe-Fünfzigjährigen mit dem knackigen Hintern. Als er mir einen Seitenblick zuwirft, tue ich so, als würde ich das nicht bemerken und grinse in mich hinein.
Doch als er die hohe Haustür aufschließt, gelingt es mir nicht mehr, meine Aufregung zu überspielen. Gebe sie mit selbstironischem Ton zu und frage Lucien, ob es bei meinem Treffen mit Madame Dubois irgendetwas zu beachten gibt?
„Madame legt großen Wert auf Authentizität. Seien Sie weiter einfach Sie selbst.“
Selber aufgewachsen in einer durchaus repräsentablen Villa, sollte mich nichts von dem, was ich sehe, überraschen oder beeindrucken. Aber ich bin überrascht und beeindruckt.
Statt prunkigem Protz geschmackvolles Understatement hatte ich nicht erwartet. Leider bleibt keine Zeit, all die Schönheit gebührend en détail zu bewundern.
„Madame erwartet Sie im Salon.“
Ich atme tief ein und wieder aus, als mir ein Bild auffällt, dass François-Anne de Bellejour gemalt hat, und plötzlich fühle ich mich nicht mehr so fremd und unsicher.
„Bereit?“
„Bereit“, sage ich und trete durch die geöffnete Tür.