La grande Dame

Durch die hellen Vorhänge scheint die Wintersonne. Sie lässt das florale Herati-Muster des Teppichs in roten, dunkelblauen und violetten Farben leuchten.

„Bonjour, Klara“, sagt Madame Dubois. „Herzlich Willkommen.“

„Bonjour, Madame Dubois, merci“, sage ich und widerstehe dem irrationalen Bedürfnis, ihr die Hand zu küssen. Stattdessen deute ich einen Knicks an und fühle trotz der Ehrfurcht eine seltsame Zuneigung für die zierliche Dame mit dem auffälligen Perlenschmuck.

„Danke, dass Sie mich empfangen, dass Sie noch in Deutschland geblieben sind.“

Schließlich hatte sie bereits vor zwei Tagen wieder abreisen wollen. Madame Dubois lächelt huldvoll, ihr Kopfschütteln ist kaum mehr als eine Andeutung, ihre Stimme zu rau für ihr Äußeres. „Ich muss mich bei Ihnen bedanken.“ Ihr französischer Akzent ist stärker als bei unserem Gespräch am Telefon. „Sie haben Ihre Reise abgebrochen, um sich langweilige Geschichten einer uralten Frau anzuhören.“

Sie winkt ab, als ich protestieren will, und deutet in einer fließenden, minimalen Bewegung zum Klavier.

Veux-tu jouer du piano pour moi?“ Madame Dubois lächelt. „Vielleicht ein bisschen Chopin?“, setzt sie hinzu und ich registriere das unaufdringliche Rot, mit dem ihre Fingernägel lackiert sind.

„Sehr gerne“, sage ich, schlucke die Bemerkung runter, dass ich lange nicht am Klavier gesessen habe, und stocke für einen Moment, als ich auf die bereits aufgeschlagenen Noten blicke. Nocturne op. 9 No. 2. Eines meiner Lieblingsstücke.

Das vorgegebene Tempo reduziere ich, um sauber und fehlerfrei durch die Läufe zu kommen. Nach wenigen Takten normalisiert sich mein Herzschlag und mit traumwandlerischer Sicherheit gleiten meine Finger über die Tasten. Ich vergesse, wo ich bin. Dass die geheimnisvolle Madame Dubois mir zuhört, statt ich ihr.

Umblättern, spielen, genießen, konzentriert und mit längst vergessener Leichtigkeit, nächste Seite, das nächste Stück. Ich vergesse die Zeit und als ich schließlich ende, bleibt es still.

Irritiert drehe ich mich um. Mein verlegen-stolzes Lächeln gefriert. Madame Dubois in ihrem Sessel vor der deckenhohen Bücherwand bewegt sich nicht. Ihre Augen sind geschlossen, der Kopf nach rechts gesunken, die Hände mit den schmalen Goldringen an den Mittelfingern liegen reglos im Schoß, über dem eine weiche Decke liegt.

Wehe, denke ich und stehe unsicher auf, wage es ja nicht!

Atmet sie noch? Soll ich Lucien rufen? Ihren Puls fühlen? Den Notarzt alarmieren?

„Madame Dubois?“, sage ich leise. „Madame Dubois?“

Als sie auf meine Ansprache nicht reagiert, taste ich nach ihrem Puls. Da flattern ihre mit zartem Rosa gepuderten Lider. Im nächsten Augenblick sieht sie mich aus klaren Augen an, kein bisschen überrascht oder verlegen.

Excusez-moi.“ Madame Dubois kichert wie ein junges Mädchen. „In meinem Alter braucht es nur ein bisschen Gemütlichkeit und schöne Musik, schon entspannen sich Geist und Körper.“

„Ich wollte mich schon empören“, sage ich ironisch vor Erleichterung.

„Zu recht“, sagt Madame Dubois und lobt mein einfühlsames Spiel. „Es war zauberhaft. Vielleicht haben Sie Lust, morgen noch einmal…? Dann vielleicht ein bisschen Mendelssohn?“

Lucien bringt eine Platte mit vegetarischen Tartes, eine mit Käste und Obst, und eine Flasche Weißwein im Kühler. In der Küche regiert Bärbel, erfahre ich, seit fünfzehn Jahren im Dienst von Madame, wenn diese in Deutschland ist. Und Bärbels Mann ist Gärtner und Hausmeister in Personalunion.

Bevor ich einhaken kann, bittet mich Madame Dubois zu erzählen. Von meiner Reise mit Little Miss Sunshine und Raluca. Will wissen, wie mir die Vogesen, wie die Provence gefallen hat, ohne nach ihrer Halbschwester François-Anne zu fragen. Als ich meinen Besuch in Cassis erwähne, lächelt Madame Dubois nur, um mich dann weiter auszufragen.

Über meine Kindheit und Jugend, meine Schulbildung. Erkundigt sich diskret nach meinem Familienstand, scheut auch nicht vor persönlichen Fragen in Bezug auf meine gescheiterte, kinderlose Ehe. Lauscht aufmerksam meinem Lamento über die Entwicklung im Journalismus und den digitalen Medien.

Als es dämmert, bittet mich Madame das Feuer im Kamin zu entzünden, die Vorhänge zu schließen. Jetzt bringt Lucien köstliche Küchlein und Kaffee, fragt Madame, ob sie noch einen Wunsch hat und sie verneint stumm, worauf er sie anlächelt und geht – ohne mir auch nur einen Blick zuzuwerfen.

„Lucien ist mein Gedächtnis“, sagt Madame Dubois übergangslos. „Mein Gedächtnis und meine Seele. Mein Gewissen, mein Kompass. Er weiß mehr über mich als ich selber. Überrascht Sie das, Klara?“

„Ja“, sage ich, „und nein. Er ist ein besonderer Mensch.“

„Ja.“

Madame Dubois schweigt mit entrücktem Blick. Dann seufzt sie ein wenig. „Es war sehr inspirierend mit Ihnen, Klara. Wenn Sie einverstanden sind, bringt Lucien Sie jetzt nach Hause und holt Sie morgen zur selben Zeit wie heute ab. D’acord?

Avec plaisir, Madame.“

„Bringen Sie gerne Raluca mit“, sagt Madame Dubois noch.

Während der Fahrt sagt Lucien kein Wort und schaut auch nicht in den Rückspiegel. Wie Fremde verabschieden wir uns höflich voneinander. Lucien wartet, bis ich die Haustür aufgeschlossen habe. Dann höre ich den Wagen davon fahren, ohne mich noch einmal umgedreht und gewunken zu haben.

Raluca springt an mir hoch, bellt und jault, während jemand sagt: „Mein Gott, wo warst du denn so lange?“