Familiäre Eiszeit

Dieser Moment, wenn du nichts möchtest, außer zum skrupellosen Mörder zu mutieren. Und gleichzeitig deinen Hund davon abhalten musst, dir diesen Wunsch sofort zu erfüllen.
„Ich dachte, du bist“, sage ich überrumpelt, „in Lond-… äh, Paris? – Raluca! Ist gut!“
„Rom“, sagt meine Mutter, „ich war in Rom. – Schluss jetzt! Aus. AUS!“
Mit der Selbstverständlichkeit der Hausherrin herrscht sie Raluca an, die augenblicklich verstummt und irritiert zur großen Frau im dramatischen Mantelkleid blinzelt.
„Du musst deinen Hund wirklich besser erziehen, Klara. Wenn so ein Riesenvieh nicht hört…“.
„Ist Papa auch da?“, frage ich automatisch.
Meine Mutter schnaubt nur und rauscht theatralisch ins Wohnzimmer. Vom für drei gedeckten Tisch lächelt mich Tom an. Um die Absurdität der Situation zu perfektionieren, klingelt es an der Haustür und meine Mutter fordert mich auf, die Sushi-Bestellung entgegen zu nehmen.
„Oh“, sage ich, „hey, Richy.“
„Äh“, sagt Richy, der mich genauso anstarrt wie damals in der Karaoke-Kneipe, als ich ihm zuraunte, wie wahnsinnig sexy er sei.
„Richy“, folge ich einer Eingebung, „kannst du eben reinkommen?“
Ich wedle mit meinen Händen und behaupte, meine Nägel frisch lackiert zu haben und deswegen die Tüten nicht anfassen zu können.
„Das ist Richy“, säusle ich, und er stellt Sushi für mindestens sechs Personen auf den Tisch. Meine Mutter schaut pikiert, dass ich den Lieferboten ins Haus lasse.
„Äh“, sagt Richy, „N’Abend.“
„Danke“, sage ich und küsse ihn auf dem Mund. „Ich ruf dich an, ja?“
„Äh“, sagt Richy, „ja. Guten Appetit. Schüssi.“
„Tschüss“, murmelt Tom.
Meine Mutter wirft mir ihren waffenscheinpflichtigen Blick zu. Tom räuspert sich und merkt freundlich an, dass es schon auch erstaunlich sei, wen ich so alles kenne.
„Ich wusste gar nicht, dass du einen Hang zum Personal hast“, setzt er hinzu.
„Ja“, gifte ich, „du weißt überhaupt sehr wenig! – Mama, ich habe schon gegessen und außerdem war es ein wirklich langer Tag…“.
„Meiner war auch extrem anstrengend“, unterbricht meine Mutter augenblicklich. Echauffiert sich über die Verspätung und überbuchte erste Klasse, zimmertemperierten Champagner, elende Wartezeit am Gepäckband. Alles nur Vorgeplänkel für den bissigen Vorwurf, mich nach diesem unfassbaren Stress nicht erreicht zu haben. „Aber zum Glück hat mich ja mein wunderbarer Schwiegersohn dann vom Flughafen abgeholt.“
„Das war doch selbstverständlich“, sagt Tom, der im Laufe unserer Ehe nicht nur die Rolle des wunderbaren Schwiegersohns perfektioniert hat. Auch seine ewige Bescheidenheit wirkt ziemlich überzeugend – jedenfalls bei meiner Mutter.
„Du solltest wirklich dankbar sein, Klara!“, sagt die jetzt. „Einen so fürsorglichen, hilfsbereiten, höflichen, liebevollen und bescheidenen Mann wie Tom zu haben, ist ein Geschenk.“
„Bitte, nur zu. Kannst ihn haben.“
Für den Bruchteil einer Sekunde verliert Tom die Contenance, dann lacht er betont amüsiert, während meine Mutter empört meinen Namen zischt. Bevor ich reagieren kann, hat sie sich schon vor mir aufgebaut, die Arme vor der Brust verschränkt. „Weiß dein Vater eigentlich Bescheid?“
„Er weiß immer und über alles Bescheid“, kontere ich, ohne nachzudenken.
„Natürlich“, sagt meine Mutter, „und wann wolltest du MIR sagen, dass du Tom verlassen hast?“
„Wieso? Bin ich dazu verpflichtet?“
„Also, entschuldige mal, ich bin deine Mutter!“
„Und ich knapp über 18. Damit kann ich Entscheidungen ohne deine Einwilligung treffen. Das sogar, ohne dich darüber zu informieren.“
Seit Jahren ist es beinahe unmöglich den Bogen nicht zu überspannen, weil meine Mutter selten wirklich zuhört, dafür jegliche Zwischentöne ignoriert. Immer.
„Klara, das kann ich nicht zulassen! Einen besseren Mann als Tom wirst du nicht mehr finden! Du darfst deine Ehe auf keinen Fall wegwerfen!“, zetert sie, jetzt absolut bühnentauglich.
„Im Gegensatz zu dir?“
„Sonnenschein“, sagt Tom beschwichtigend, „deine Mutter meint …“.
„Sag du mir verdammt noch mal nicht, was meine Mutter meint!“
„Klara! Tom will doch nur…“.
„Spinnt ihr eigentlich total? Für euch beide! Zum mitschreiben: Es ist vorbei. Ich will diese Ehe nicht mehr. Deswegen werde ich die Scheidung einreichen. Habt ihr das jetzt endlich verstanden?“
„Was redest du denn da?“, empört sich meine Mutter in bester Arienlautstärke.
Raluca fängt leise an zu knurren, meine Mutter macht eine ungeduldige Handbewegung in ihre Richtung und „tschtschtsch!“, während Tom immer noch zu vermitteln versucht: „Komm schon, Äffchen, wir…“.
„Ich bin NICHT dein Äffchen!“
„Liebling…“.
„Und ich bin auch nicht mehr dein Liebling, oder Sonnenschein! Mein Name ist Klara!“
„Klara“, ruft meine Mutter.
„Süße“, sagt Tom, „wir sind doch erwachsene Menschen und können über alles in Ruhe…“.
„Nein“, brülle ich, „nein! Lass mich mit deinem Scheißverständnis in Ruhe! Es gibt nichts mehr zu reden! Wir haben genug geredet! – Raluca, komm!“
Es ist dunkel. Minus acht Grad. Die Straßen sind spiegelglatt, die Gehwege nur stellenweise begehbar. Ich fühl mich genauso vereist, wie die letzten Blüten am Rosenstrauch.
Raluca bohrt ihre Schnauze tief in den Schnee, als mein Handy klingelt. Eine unbekannte Nummer. Es gibt sowieso niemandem, mit dem ich jetzt reden möchte. Vermutlich sowieso verwählt. Oder? Ich zögere zu lange. Stapfe endlos durch die Kälte, um sicher sein zu können, dass Tom weg ist.
Dann drücke ich doch noch auf Rückruf. Eine Stimme sagt erfreut: „Bonsoir, Madame Kern.“
