Schlechter Scherz?
Der Anrufer stellt sich als sehr enger Freund der Familie vor. Mit ernster, sonorer Stimme sagt er was von Fehlentscheidungen, von Konsequenzen, von Ereignissen, die aus gutem Grund so viele Jahrzehnten der Öffentlichkeit vorenthalten wurden. Wozu das ausgerechnet jetzt ändern? Wozu in der Vergangenheit wühlen? Wo doch nichts von dem mehr überprüft werden kann, weil es keine lebenden Zeugen mehr gibt?
Dann schwingt spöttische Leichtigkeit in seinem Seufzen, das Buchprojekt sei nichts, das irgendetwas zum Besseren verändern, irgendjemanden helfen würde.
„Sie sind noch so jung, Klara. So jung. Ihr halbes Leben liegt noch vor Ihnen. Warum wollen Sie Ihre gute Reputation aufs Spiel setzen? Warum genießen Sie nicht Ihre neue Freiheit? Abgesehen davon, wird Madame Dubois sicher nicht mehr lange genug leben, als dass Sie die ganze Wahrheit von ihr erfahren könnten.“
Zu perplex um schlagfertig zu antworten, um überhaupt zu reagieren, höre ich, wie der sehr enge Freund der Familie mir einen doppelt so lukrativen Auftrag anbietet. „Ich hoffe für uns Beide, Klara, dass Sie die richtige Entscheidung treffen. Ich rufe Sie morgen um dieselbe Zeit wieder an und dann klären wir die Details. Bon nuit et bons rêves, Madame Kern.“

Hysterisches Kichern. Die Überzeugung, der Anruf war ein schlechter Scherz. Das kann nur ein schlechter Scherz gewesen sein. Wirklich? Mit jedem Atemzug, mit jedem Schritt wächst mein Bedürfnis, mit jemandem darüber zu reden.
Aber mit wem? Kayserling? Der wird mich für überspannt halten. Tom? Wird jedem Wort zustimmen. Mein Vater ist gesundheitlich zu angeschlagen. Meine Mutter? So verzweifelt kann ich nicht sein.
Pelle! Ich will Pelle anrufen. Will hören, wie er die Augen verdreht. Es war immer zu hören. Pelle. Er fehlt mir mehr, als ich mir die letzten Wochen eingestehen musste. Welchen Rat würde er mir geben? Dass ich den Anrufer ernst nehmen soll? Ja. Vielleicht. Pelle würde mich definitiv bitten, mit dem einzigen Menschen zu sprechen, der die Situation ernsthaft beurteilen kann.
Es ist kurz nach Mitternacht. Zu spät, diesen einzigen Menschen noch anzurufen?