Zug um Zug

Andeutungen, Spekulationen. Vermutungen, Verdächtigungen, Unterstellungen. Licht in das nebulöse Leben von Madame Dubois zu bringen, dafür bin ich vor Monaten angetreten.

Meine Neugier war von Beginn an mehr als eine rein journalistische. Jeder Mensch, besonders derjenige, der älter als der Durchschnitt ist, hat eine Geschichte, die lohnt, erzählt zu werden. Mit dem seltsamen Anruf vom angeblichen sehr engen Freund der Familie bekommt der Auftrag von Kayserling jedoch eine andere Dimension, eine unerwartete Wucht, die mich verunsichert.

Ich wollte Madame Dubois anrufen, zuhause, in Ruhe. Noch nicht ganz in der Haustür, hat meine Mutter mich mit Vorwürfen überschüttet. Taumelte zeternd, dann weinend durch den Flur ins Wohnzimmer. Auf dem Tisch zweieinhalb leere Flaschen Chablis.

Ich habe ihr versichert, dass ich sie liebe, dass sie weder alt und schon gar nicht hässlich, ihre Zeit als Sängerin und Schauspielerin noch lange nicht vorbei ist, dass alles gut und Papa wieder gesund wird. Dann habe ich ihre Hand gehalten, bis sie endlich schlief, da war es kurz nach halb zwei. Meine Augen brannten, der geheimnisvolle Anruf hatte seinen Schrecken verloren.

Während ich jetzt darauf warte, dass Lucien mich abholt, koche ich Kaffee für meine Mutter und rufe die Haushälterin meiner Eltern an, aber Meyerchen weiß schon Bescheid, wird gegen Mittag hier sein. Tom hat sie bereits gestern informiert. Natürlich hat er das, der vorbildlichste aller Schwiegersöhne.

Als nächstes bitte ich Dr. Gehrholz um einen Termin. Mein Vater und die angeblich beste Scheidungsanwältin der Stadt kennen sich seit Jahrzehnten. Eigentlich hat sie vor Ende Januar keine Termine mehr frei, aber für die Tochter von macht sie eine Ausnahme.

„Lassen Sie uns zusammen essen gehen“, sagt Dr. Gehrholz, „übermorgen, 20 Uhr? Im Laila?“

Erfreut sage ich zu und als Lucien klingelt, registriere ich erstaunt, dass er gar nicht so riesig ist, wie er mir gestern vorkam. Dafür erscheint er mir jedoch noch attraktiver. Lucien wünscht höflich einen guten Morgen, hält mir die Wagentür auf – und ich überspiele meine Unsicherheit.

„Madame Dubois sagte gestern, dass Sie mehr über sie wissen als sie selbst“, sage ich. „Übertreibt sie?“

„Madame übertreibt selten“, sagt Lucien höflich, aber ohne das flirtive Lächeln. „Sehr selten, fast nie.“

„Dann kennen Sie auch die sehr engen Freunde der Familie“, stelle ich fest, obwohl es eigentlich eine Frage ist. „Welcher von diesen engen Freunden“, frage ich direkt, „könnte etwas dagegen haben, dass ein Buch über Madame Dubois erscheint? Dass jemand ihre Vergangenheit… thematisiert.“

Ich meine zu sehen, wie Lucien sich verspannt. Nur einen winzigen Moment lang erstarrt sein Gesicht und ich fixiere seinen Blick im Rückspiegel. Dann hebt er das Kinn und lächelt.

„Das fragen Sie besser Madame selber.“

Ich komme aber nicht dazu. Denn Madame Dubois strahlt mich an, vor sich das Schachspiel und bittet mich um eine Partie.

„Ich kenne nur die Funktion der Figuren“, sage ich. „Meist bin ich in weniger als sechs Zügen Schachmatt.“

„Dann fehlte Ihnen bislang nur der richtige Ansporn“, sagt Madame Dubois und lässt einen weißen Bauern in ihrer Hand verschwinden. „Pro Zug dürfen Sie mir irgendeine Frage stellen und ich entscheide, ob ich sie beantworte. Für jede Figur, die Sie mir nehmen, bin ich verpflichtet, die Frage zu beantworten.“

„Klingt, als hätte ich keine Wahl.“

Madame Dubois hält mir beide zu Fäusten geballten Hände hin und lächelt. „Man hat immer eine Wahl.“

„Man muss nur bereit sein, mit den Konsequenzen zu leben?“, frage ich, vibrierend vor Nervosität. Ich bin bei allem Ehrgeiz tatsächlich die denkbar größte Schach-Niete. Gleichzeitig wäre der Deal eine sehr elegante Möglichkeit herauszufinden, wer der nächtliche Anrufer ist.

„Man sollte die Konsequenzen kennen, und vor allem keine Angst vor ihnen haben“, sagt Madame Dubois und dreht das Schachbrett, damit ich das Spiel eröffne.