Mord und Mörder

Wortlos und ohne Erklärung zu verschwinden, liegt offensichtlich in der Familie. Auf dem Küchentisch finde ich einen Zettel von Mary Stewart. Thx for having us. Unterschrieben mit xxx.

Weder überrascht noch kränkt mich ihre überstürzte Abreise ohne Abschied. Alles, was Mary in den vergangenen Tagen erzählt hat, wirkt nüchtern und mit Abstand betrachtet wirr, konstruiert, unlogisch. Marys Wahrheiten, ihre Realität in Bezug auf ihre Ur-Großmutter sind eine spannende, wenn auch unglaubwürdige Melange aus Vermutungen, Behauptungen, Gerüchten und Kolportagen.

Selbst wenn Louis-Clément Morel tatsächlich ermordet worden sein sollte – wieso hat Madame Dubois kein Wort über das Schicksal ihres vierten Ehemanns verloren? Keine einzige Andeutung gemacht, nicht mal erwähnt hat sie seinen angeblich gewaltsamen Tod.

Für meinen Stolz kann ich mir nichts kaufen, also schubse ich ihn über Bord. Als Madame’s rechte Hand oder Privatsekretär oder welche Funktion er auch immer hat, wird Lucien die Wahrheit wissen. Aber wird er sie mir auch verraten?

„Ich vermute, Sie haben mit Mary Stewart gesprochen?“, sagt Lucien höflich, ohne jegliche Ironie.

„Sie vermuten richtig“, sage ich bemüht sachlich und verschweige Marys unerwarteten Kurzbesuch.

„Wozu möchten Sie Informationen zu einer Angelegenheit, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist?“

„Weil ich als Journalistin gerne möglichst alle Fakten kenne“, sage ich automatisch.

„Monsieur Morel“, sagt Lucien ruhig, „war bedauerlicherweise tatsächlich in Waffengeschäfte verwickelt.“

„Also wurde er ermordet?“

„Diese Möglichkeit besteht. Durchaus. Ein Unfall kann aber ebenfalls nicht ausgeschlossen werden.“

„Lucien“, sage ich gereizt, „Wieso unterschreibe ich einen Vertrag mit Verschwiegenheitsklausel, wenn mir am Ende doch nicht vertraut wird? Warum sagen Sie mir nicht die Wahrheit? Sie kennen Sie doch, oder?“

Lucien schweigt einen Moment zu lang.

„Ich werde die Angelegenheit mit Madame besprechen und melde mich bei Ihnen, Klara.“

Nur eine Stunde später ruft er mich an und sagt: „Monsieur Morel wurde ermordet.“

„Tatsächlich“, sage ich spöttisch, weil ich diese Antwort genaugenommen ja schon kenne. „Gehe ich richtig in der Annahme, Madame kennt den Täter?“

„Ja.“

„Warum schützt sie ihn?“

„Weil sie ihre Gründe hat“, fragt Lucien augenblicklich und das kaum hörbare Zittern in seiner Stimme lässt mich innerlich triumphieren, während ich die nächste Frage stelle.

Sein Schweigen dauert lang. Zu lang. Als er schließlich antwortet, sehe ich ihn vor mir, diesen wunderschönen Mann mit der dunklen Haut, den geheimnisvollen Augen, dem mokanten Lächeln. Spüre sein Erstarren. Höre die Angst in seiner tonlosen Stimme, als er leise sagt: „Ja. Ja, es stimmt.“

Wer auf die Wahrheit besteht, muss mit ihr leben. Ich wollte Lucien provozieren in der Überzeugung, dass er niemals seine Deckung aufgeben würde – vor allem nicht mir gegenüber. Jetzt bin ich klüger. Weiß etwas, was ich nie wissen wollte. Was mich überfordert. So sehr, dass ich einen hysterischen Lachanfall bekomme. Als ich mich beruhigt habe, ist die Leitung tot.

Das kann nicht sein. Ich merke, wie mir die Knie wegsacken.

Das kann nicht sein. Ich setze Wasser für Tee auf.

Das kann nicht sein. Ich schaue aus dem Fenster, ohne den Regen zu bemerken, ihn erst registriere, als Kälte sich in mir ausbreitet.