Vergeben, ohne zu vergessen

Wieviel Zeit braucht es, um Fehler zu vergeben?

Wieviele Anläufe braucht es, um auf den anderen zuzugehen?

Wieviel Größe?

Ohne Sentimentalität sagt Madame Dubois: „Ich liebe meine Töchter und meinen Sohn. Aber ich kann sie nicht zwingen, meine Gefühle zu erwidern.“

Was vor Jahrzehnten vorgefallen ist, ist so monströs wie vermutlich leider nicht mal ungewöhnlich. Wobei es nie gewöhnlich sein darf, dass Kinder für die Fehler ihrer Eltern zahlen müssen.

Doch weder Isabelle oder Florence noch der jüngste, Armand, sind bereit, die Vergangenheit ruhen zu lassen.

Nicht Madame Dubois hat ihren Kindern zu verzeihen, sondern sie ihr.

„Solange die Situation ist, wie sie ist, werden meine Kinder nicht erwähnt.“

Mit kühler Bestimmtheit hat Madame Dubois diesen Satz gesagt. Ihr Ton, aber vor allem ihr unversöhnlicher Blick haben mich eingeschüchtert. Mir blieb nur ein stummes Nicken. Und dann setzte Madame hinzu, auch Lucien solle keine Aufmerksamkeit im Buch geschenkt werden.

Ein Hauch von Widerspruch, vorsichtig, diplomatisch, wie es sonst nicht unbedingt meine Art ist, hat Madame Dubois nicht mal ein Stirnrunzeln entlockt. „Sehen Sie, Klara, Ihnen und auch mir mag das Leben und die Funktion von Lucien in meinem Leben erzählenswert erscheinen. Aber es gilt seinen Wunsch zu respektieren, nicht in Erscheinung treten zu wollen.“

Auch jetzt, drei Tage nach diesem Gespräch, erscheint mir das absurd.

Seit mehr als zwanzig Jahren ist Lucien an Madame’s Seite und damit länger, als jeder ihrer vier Ehemänner. Und trotzdem existiert er offiziell nicht? Weil er selber es nicht will?

Plötzlich bohrt sich in meine bisher stetig wachsende Sympathie für Madame Dubois ein befremdliches Gefühl, das weit über eine normale Irritation hinausgeht.

Meine Mutter drängt es in den Mittelpunkt. Sie giert ständig nach ungeteilter Aufmerksamkeit. Hasst jegliche Konkurrenz auf allen Ebenen. Doch trotz unserer endlosen Auseinandersetzungen, die wir seit Jahren sorgfältig pflegen, würde sie mich niemals verleugnen.

Dass die Kinder von Madame Dubois ihr gegenüber geschlossen unversöhnlich auftreten, verwundert nicht, angesichts der Ereignisse.

Dass sich im Gegenzug Madame derart unversöhnlich ihren beiden Töchtern und ihrem einzigen Sohn gegenüber zeigt, ist nicht nachvollziehbar. Mehr noch. Verärgert überdenke ich ihren vermeintlich gleichgültigen Satz: Solange die Situation ist, wie sie ist, werden meine Kinder nicht erwähnt.

Plötzlich begreife ich, was ich tun könnte, vielleicht müsste. Aber habe ich wirklich den Mut dazu?