Falsche Verwandte

Hätte ich gestern gewusst, was ich jetzt weiß, wäre ich direkt abgefahren. Hätte Mary Stewarts Nummer blockiert, alle Unterlagen, alle Rechercheergebnisse vernichtet, alle Interviews mit Madame Dubois gelöscht. Und Kayserling informiert, dass das Projekt für mich gestorben ist.

Stattdessen stampfe ich durch endlose schwedische Wälder, als ändere das irgendetwas an dem, was ich seit heute weiß. Raluca tobt durch das Unterholz, springt auf Steine wie vor einer halben Ewigkeit in der Provence, und glotzt in die Landschaft. Jagt erfolglos einen Fuchs, dann einen großen Hasen. Kommt auf meinen Pfiff hin zurück und trabt mit hängender Zunge neben mir, bevor sie sich ins dichte Moos wirft, die Nase ins feuchte Grün bohrt.

Seit beinahe zwei Stunden bin ich schon unterwegs, Hügel rauf und runter, auf einem bergigen Schotterweg, von dem ich nicht weiß, wohin er führt. Die letzten Schneereste knirschen unter meinen wütenden Schritten.

Worüber echauffiere ich mich eigentlich? Über die Wahrheit, die Madame Dubois nach Gutdünken beugt, so dass sie ihre Hände in Unschuld waschen kann? Wir alle wissen, dass es nicht DIE eine Wahrheit gibt.

Warum glaube ich, schockiert, moralisch empört sein zu müssen? Weil für Madame Dubois nur die Regeln gelten, die sie aufstellt?

Warum stelle ich schnörkellose, direkte Fragen, wenn ich dann die Antworten nicht ertrage?  

Warum halte ich meine Wertvorstellungen für die besseren?

Warum habe ich mich für klüger gehalten, als ich es bin?

Was und vor allem wem soll ich glauben?

Offensichtlich existiert keine Ur-Enkelin Mary Stewart. Jedenfalls keine von Madame Dubois anerkannte Verwandte.

Mary Stewarts Mutter ist das Ergebnis eines Seitensprungs von Florence erstem Ehemann Luc.

„Florence ist gerichtlich gegen die Affäre ihres Mannes vorgegangen“, hat Madame Dubois erklärt. „Leider war der Vaterschaftstest eindeutig.“

Zwar habe Florence ihrem Mann verziehen, Luc sogar gezwungen, die Verantwortung für seine uneheliche Tochter zu übernehmen. Mit seinem Tod vor neun Jahren jedoch hat Florence die Unterhaltszahlungen an ihre einstige Rivalin und deren Tochter Mary eingestellt.

„Marys Mutter hat dagegen geklagt und in drei Instanzen verloren“, hat Madame Dubois bemüht sachlich gesagt. „Im vergangenen Jahr ist sie verstorben, seitdem versucht Mary mich zu erpressen.“

„Mit welchem Ziel?“

„Mit dem Ziel, das alle verfolgen, die keine Verantwortung für ihr Leben übernehmen wollen.“ Zum ersten Mal hat Madame Dubois keinen Hehl aus ihrer abgrundtiefen Verachtung für einen anderen Menschen gemacht. „Geld. Mein Geld.“

„Haben Sie Mary Stewart eigentlich je persönlich getroffen?“

„Sehen Sie, Klara“, hat Madame Dubois gesagt, „es ist wichtig zu verzeihen. Je älter ich werde, desto leichter fällt es mir. Deswegen habe ich mich für das Buch entschieden. Es ist für meine Familie, damit sie eines Tages vielleicht versteht. Ich wünsche mir ein versöhnliches Resümee meines Lebens – vor allem für meine Kinder. Kommenden Herbst werde ich seit 85 Jahren auf dieser Welt sein. Aber selbst wenn ich eines Tages 100 werden sollte, was Gott verhindern möge, würde diese Mary Stewart sicherlich nicht unter meinen Gästen sein.“

Damit war das Thema Mary Stewart erledigt. Ohne dass ich ihren Besuch bei mir erwähnt habe. Ohne irgendetwas erwähnt zu haben, was mit Mary Stewart zusammenhängt. Weder die Karte, noch meine Begegnung mit François-Anne de Bellejour noch Mary Stewarts angebliche Sorge um ihre Granny.

Aber wenn Madame Dubois doch seit Jahrzehnten keinen Kontakt zu ihren Kindern hat, woher weiß sie dann all die Details über deren Leben?

Ich mache mich auf den Rückweg. Die langsam versinkende Sonne zaubert der Welt einen goldenen Glanz. Alles wirkt mystisch, der Tag leuchtet in weichem, sanftem Licht. Selbst Raluca scheint zu leuchten.

Lucien muss uns gesehen haben. Bevor ich klopfen kann, öffnet er die Tür. Und während er mir aus dem Mantel hilft und sagt, dass Madame mich zur fika erwartet, ist meine Wut auf Madame Dubois, auf Mary Stewart und vor allem auf mich selber verraucht.

Da wird mir klar, dass es Lucien ist, der Madame Dubois über das Leben ihrer Kinder auf dem Laufenden hält.