Verlorene Schwester

Mit Betreten des Salons streiche ich Mary Stewart aus meinem Gedächtnis. Ihre seltsamen Anrufe mitten in der Nacht, ihr Verfolgungswahn, von dem ich nicht sagen kann, ob er berechtigt ist oder Masche, um die Aufmerksamkeit zu bekommen, nach der sie offensichtlich schon ihr Leben lang lechzt.

Und doch bleiben Zweifel. Woher weiß Mary Stewart von François-Anne de Bellejour? Dass sie die Halbschwester von Madame Dubois ist? Woher hat Mary diese Karte, mit der ich die Malerin gefunden habe? Und woher die ganzen Unterlagen, die Fotoalben, die sie mir geschickt hat? Spielt das überhaupt eine Rolle? Wenn Madame Dubois die junge Frau nicht als Verwandte anerkennt, dann habe ich das nicht zu hinterfragen, sondern zu akzeptieren.

Innerliche werfe ich das symbolisch zerknüllte Papier mit dem Namen Mary Stewart nicht in den Kamin, um alles zu verbrennen, sondern streiche es wieder glatt und lege es in eine imaginäre Schublade. Haben ist besser als brauchen. Und außerdem muss ich ja nicht darüber sprechen.

Mit mulmigem Schuldgefühl klopfe ich und betrete dann den Salon, in dem edle Petroleumlampen und Kerzen Gemütlichkeit verbreiten. Madame Dubois lächelt mich herzlich an. Mein vor wenigen Stunden in unhöflicher Eile vorgeschobenes, angeblich wichtiges Telefonat ist vergessen.

„Klara“, sagt Madame Dubois, ein elegantes Tuch über den Schultern, und macht eine einladende Handbewegung. „Ich würde Ihnen gerne von meiner einzigen Schwester erzählen.“

Kurz kämpfe ich mit mir. Doch dann nicke ich nur mit einem erfreuten Lächeln, setze mich Madame gegenüber an den gedeckten Kaffeetisch und gebe mich überrascht.

„Sie haben eine Schwester?“

Bilde ich mir ein, dass Madame Dubois ein wenig zurückzuckt, als hätte sie sich verbrannt? Nur mühsam halte ich ihren prüfenden Blick mit einem betont neugierigen Ausdruck stand.

„François-Anne“, sagt Madame Dubois und lässt nicht erkennen, ob und welche Gefühle der Name in ihr auslöst. „Wir haben uns vor Jahrzehnten aus den Augen verloren. Ich erinnere mich nicht einmal mehr an den Grund. Vermutlich irgendein dummes Missverständnis.“

Der Tod des gemeinsamen Vaters!, erinnere ich mich augenblicklich. Als er starb, trampte die damals 15-jährige François-Anne durch die Welt und kam nicht einmal zur Beerdigung, während Jeanne-Catherine mit ihrer Trauer alleine blieb.

Ob sie das wirklich vergessen hat oder nur nicht mit mir darüber reden möchte? Zum ersten Mal erlebe ich Madame zögernd, verletzlich und spürbar verunsichert. Ich schweige, senke für einen Moment den Blick, um professionell bleiben zu können, und mich vor lauter Mitgefühl nicht zu verraten.

Ein kaum hörbarer Seufzer, wie Raluca ihn manchmal tut, wenn sie sich zufrieden auf die Seite fallen lässt und dann einschläft, lässt mich den Kopf heben.

Madame Dubois hat Tränen in den Augen. Ihre Lippen zittern, ihre Stimme ist leise.

„Sie war der wichtigste Mensch in meinem Leben. Sie verloren zu haben, sie aufgegeben zu haben, ist eine der größten Sünde, die ich je begangen habe.“