Au revoir, Madame Dubois

Vorbei. Sie ist abgelaufen, meine Zeit mit Madame Dubois. Einfach so. Wieder einmal ohne Vorankündigung.
Ich begreife es nicht. Eben noch haben wir zusammen gesessen. Hat sich Madame mir vollkommen anvertraut. Ihr größtes Geheimnis, ihre schlimmsten Verluste, ihre tiefsten Verletzungen – erlittene wie zugefügte – es gibt wohl nichts mehr, was ich nicht über sie weiß.
Wir haben gekichert wie Verbündete. Aufmerksam habe ich gelauscht, respektvoll, aber unerbittlich nachgehakt. (Ihr ausdrücklicher Wunsch, dem ich von Tag zu Tag mit mehr Leichtigkeit entsprechen konnte.) Stunde um Stunde Interviewmaterial gesammelt, Notizen gemacht. Briefe in Empfang genommen, brisante Dokumente und Unterlagen kopiert. Zusammenhänge begriffen.
Die vergangene Woche ist so schnell verflogen. Verschwommen die einzelnen Tage, in grenzenloser Unendlichkeit ineinander aufgegangen.
Bei Sonnenaufgang bin ich mit Raluca durch den tiefen Schnee gestapft. Die Kälte, so trocken, so glitzernd, so stechend. Das Licht überirdisch schön. Noch während des Frühstücks hat unsere Arbeit begonnen, hat Madame Dubois auf meine Fragen geantwortet, präzise, schnörkellos, offen. Immer vertrauensvoller.
Je klirrender es draußen wurde, je tiefer die Temperaturen sanken, gestern waren es minus siebzehn Grad, desto wärmer wurde Madame Dubois. Ihre Stimme klang nicht mehr so rau, ihr Lächeln wurde von Tag zu Tag milder, ehrlicher, aufrichtiger. Während sie von den Tragödien und Dramen ihres Lebens erzählte, von den Verwirrungen, Verflechtungen, von den Missverständnissen, den Heimlichkeiten und Lügen, wurde sie ruhiger. Verjüngte sich vor meinen Augen, begann von Innen zu leuchten.
Und dann geschah etwas, womit ich nicht gerechnet hatte. Was ich mir so sehr für Madame Dubois gewünscht, woran ich nicht geglaubt hatte. Und doch war es zu spät.
Denn Madame Dubois ist tot. Gestorben im Schlaf, vor zwei Nächten. Oder drei?
Meine geheimnisvolle Freundin, als solche hat sie mich am Vorabend ihres Todes genannt, Freundin, mich dabei angelächelt, ohne mich zum Abschied zu berühren, die wunderbare Madame Dubois, die rätselhafte Jeanne-Catherine gibt es nicht mehr.
Und doch lebt sie.
In der Erinnerung, in ihren Geschichten.
Ursprünglich hatte ich das Buch über sie hier in Schweden schreiben wollen. Ich hatte Madames Erlaubnis, das Haus solange zu bewohnen, wie ich wollte. Es wäre der perfekte Ort. Und doch fahre ich in den kommenden Tagen nach Hause.
Ich möchte reinen Tisch machen. Meine Eltern um Verzeihung bitten. Mich mit Tom aussöhnen. An Pelles Grab stehen, und um ihn trauern. Nicht länger weglaufen vor dem, was Leben ist.
Meine Tage sind von irritierender Leichtigkeit. Die Sonne, der blaue Himmel, der knietiefe Schnee, die langen Ausflüge mit Raluca, die Abende vor dem Kamin. Es ist, als sei ein Abschnitt zu Ende. Eine neue Ruhe breitet sich jeden Tag ein bisschen mehr aus. Eine neue Gewissheit, dass alles zur rechten Zeit passiert, alles seine Berechtigung hat, ganz gleich, wie schmerzhaft. Dass alles seinen Sinn hat, auch wenn ich ihn (noch) nicht begreife.
Ich habe Kayserling von Madame Dubois‘ Tod unterrichtet, schriftlich. Ich möchte im Moment mit niemandem sprechen, möchte meine Gedanken nicht unterbrechen müssen. Sie sollen still sein dürfen, sich ineinander verwirren, wieder klar werden können. In ihrem Tempo. Ich nehme mir die Zeit traurig zu sein und gleichzeitig vor Dankbarkeit durch den Salon zu tanzen.
Lucien hat den Sarg mit Madame Dubois nach Frankreich geflogen. Er hat mich eingeladen, ihn zu begleiten. Doch dieser Teil der Familiengeschichte gehört nur ihm. Ihm, Isabelle, Florence und Arnauld.
Au revoir, Madame Dubois.
