Der Kulturen-Überschreiter
Ashis Nandy im Porträt

Der indische Wissenschaftler Ashis Nandy hat westliche Theorien auf seine Kultur übertragen, die gesellschaftliche Folgen des Kolonialismus erforscht, engagiert sich weltweit für Frieden und gilt als streitbarster Intellektueller Indiens. Für sein Lebenswerk erhielt der renommierte Kulturpsychologe den Hans-Kilian-Preis der Köhler-Stiftung.
Kämpferisch. Friedfertig. Bescheiden. Provokant. Dazu unbequem, unerschrocken, höflich, liebenswürdig und kritisch-couragiert. Der 82-jährige Psychoanalytiker und Sozialtheoretiker Ashis Nandy lässt sich in keine gängige Schablone pressen. In der Laudatio der Köhler-Stiftung heißt es über einen der einflussreichsten Intellektuellen Indiens, ihn zeichne sein unbeirrbarer Glaube an das Potenzial des Menschen aus, mitfühlende Gesellschaften zu errichten. Ashis Nandy ist der fünfte Wissenschaftler, der mit dem 2011 ins Leben gerufenen Hans-Kilian-Preis ausgezeichnet wurde. Im Frühjahr wurde ihm die deutschlandweit höchstdotierte Ehrung für sein lebenslanges Engagement für eine humanitärere Welt, für seine kreative und interdisziplinäre Forschungsarbeit im sozial- und kulturwissenschaftlichen Bereich in der Ruhr-Universität Bochum überreicht. Laut Dr. Pradeep Chakkarath, Co-Direktor des Hans Kilian und Lotte Köhler Centrums (KKC), nahm der Preisträger gerührt und in tiefer Bescheidenheit die mit 80.000 Euro dotierte Anerkennung an.
Der 1937 in Bhagalpur / Bihar geborene Ashis Nandy lebt mit seiner Frau Uma in Indiens Hauptstadt Delhi. Seit 55 Jahren sind sie verheiratet, haben eine Tochter und eine Enkeltochter. „Meine Frau und meine Tochter sind sehr fürsorgliche Menschen.“ Seine Worte lassen vermuten, dass er stolz ist. Auf seine Frau, die in den späten 1950er Jahren wie er klinische Psychologie am B.M. Institute in Ahmedabad, Gujarat, studiert hat. Auf seine Tochter, die Schulleiterin ist. Auf seine Enkelin, die Jura studiert. Das Lächeln in seiner Stimme ist herauszulesen, wenn er die Tür zu seinem Privatleben einen Spalt weit öffnet. „Während unserer langen Ehe ist es meiner Frau nicht gelungen, mir ihren Pragmatismus beizubringen. Und ich bin mit dem Versuch gescheitert, sie davon zu überzeugen, dass mein chaotischer Lebensstil und mein Unorganisiertsein der Code für mein intellektuelles Leben sind.“ Und so steht als selbstironische Signatur unter den Emails von Ashis Nandy: „I am a reluctant and disorganised correspondent, but I do reply at the end.“
Seit Jahrzehnten führt der Wissenschaftler und Menschenrechtler ein öffentliches Leben. Die Antwort auf die Frage, wie er seine vielzähligen Verabredungen und Termine manage, überrascht: „Ich habe mir immer erlaubt, mich von meinen Freunden und Kollegen entführen zu lassen. Manche würden sagen, ich habe in meinem Leben eine Menge Zeit vergeudet, aber ich habe sicherlich ein umso reicheres Leben geführt.“ Reicher als so mancher, der mit Scheuklappen durch die Welt geht, die Augen vor Ungerechtigkeiten verschließt oder sie schulterzuckend hinnimmt. Ashis Nandy tut weder das eine noch das andere. Weil er als Sechsjähriger hilflos mitansehen musste, wie verhungernde Menschen bettelnd um Wasser durch Kalkuttas Straßen wankten? Während sein Vater Satish Chandra Nandy unermüdlich versuchte, die Not der Flüchtlinge zu lindern? Ja. Weil Ashis Nandy im Alter von neun Jahren die Unruhen in Kalkutta (Great Calcutta Killing, 1946) erlebte, als bei Kämpfen zwischen Hindus und Muslims innerhalb von vier Tagen allein etwa 10.000 Menschen getötet wurden? Ja. Und dann, zwei Jahre später, der Mord am pazifistischen Rechtsanwalt und Widerstandskämpfer Mohandas Karamchand Gandhi (1869 – 1948). „Ich war dazu bestimmt, kollektive Gewalt als globales Problem und gefährliches Überbleibsel unserer Generation zu sehen, was Einfluss auf die nächste Generation hat“, fasst Ashis Nandy die Schrecken seiner Kindheit und Jugend zusammen. „Ich erlebte den weltweiten Genozid von 225 Millionen Menschen.“ Das habe ihn geprägt.
Doch geprägt haben ihn auch die tiefen christlichen Werte seines Vaters und seiner Mutter Prafulla Nalini Nandy, Lehrerin an Le Martiniere Calcutta, später erste indische Vize-Schuldirektorin. Die elterlichen Werte – gelebte Wohltätigkeit, Gnade und daya (Barmherzigkeit) – hat Ashis Nandy später an sein einziges Kind weitergegeben. Doch obwohl von Literatur umgeben, und mit Respekt vor Wissen und Bildung aufgewachsen, habe er schon als Jugendlicher seinen Glauben verloren, sagt Ashis Nandy, der noch zwei jüngere Brüder hat. Und so bezeichnet sich der indische Intellektuelle als Atheist (a non-believer), ohne jedoch seine christliche Gemeinde zu verleugnen.
Was ist es eigentlich, was einen für diesen außergewöhnlichen Mann in Sekundenschnelle einnimmt? Die weichen Wangen, der graue Haarkranz um die hohe Stirn, der melierte Bart und die randlose Brille, die Ashis Nandy diesen friedlich-freundlichen Großvaterlook geben? Auf den ersten Blick erscheint der nicht sehr groß gewachsene Inder ein höflicher Herr zu sein, dessen schelmisches Lächeln auf den vollen Lippen sich auch in seinen braunen Augen spiegelt. Jemand, mit dem man ungezwungen bei einer Tasse Tee über bengalische und englische Poesie plaudern mag. In den Bann zieht letztlich das, was er mit rauer Stimme sagt. Wie er es sagt. Wenn er spricht, dabei gestikuliert und immer wieder inne hält, um die richtige Formulierung zu wählen, dann fesselt seine faszinierende Persönlichkeit, deren Haltung man nur mit Respekt begegnen kann. Weil seine kluge, interdisziplinäre Sicht auf die Dinge Brücken schlägt zwischen westlichen und östlichen Gesellschaften. Ashis Nandy wird eine enorme öffentliche wie einflussreiche intellektuelle und wissenschaftliche Bedeutung im postkolonialen Zeitalter zugeschrieben. Er ist nicht nur Kritiker, sondern gilt als ein Vermittler zwischen den Kulturen.
Gewaltlose Konfliktlösungen, ein friedliches Miteinander als Weg der Versöhnung. Diese Themen finden sich auch in seinem mehr als 20 Büchern, unzählige Aufsätzen und Essays, Zeitungsartikeln und Interviews umfassenden Lebenswerk. Wobei einzig „The Intimate Enemy“ auf Deutsch unter dem Titel „Der Intimfeind: Verlust und Wiederaneignung der Persönlichkeit im Kolonialismus“ erschienen ist. Eines seiner Kernthemen ist der (Post)Kolonialismus. Seit Jahrzehnten diskutiert Ashis Nandy darüber in Indien, den USA, Japan und Europa. Debattiert über die Gefahr der Säkularisierung Indiens. Über die Zunahme von Gewalt und Brutalisierung. Über Kulturpolitik. Seine Zuhörer und Gesprächspartner: Wissenschaftler, StudentInnen, Intellektuelle.
Der bärtige Mann, der sich für ein Interview Pfeife rauchend fotografieren ließ, der bei Lopchu Darjeeling Tee täglich mehrere Zeitungen und Magazine liest, um sich über das Weltgeschehen zu informieren, dieser Mann ist nicht nur Aufklärer, sondern konstruktiver Kritiker. Und damit ein Dorn in den Augen von hinduistischen Fundamentalisten und Angehörigen der politischen Elite. Sie betrachten den zutiefst humanistischen, friedfertigen Mitbegründer der Postcolonial Studies seit gut 15 Jahren argwöhnisch, bedrohten ihn mehrfach.
Nachgefragt bei Ashis Nandy, der stets von Freunden und gleichgesinnten Mitreisenden, spricht, niemals von „Jüngern“ oder „Anhängern“, wer seine Gegner sind. Diejenigen, von denen nicht nur sein in den USA lebender Bruder Pritish Nandy, gefeierter Poet, ehemaliges Parlamentsmitglied und Mitbegründer der Tierschutz-NGP People for animals befürchtet, dass sie seinen Tod wollen könnten. „Ja, ich habe Feinde. Manche sind faszinierend, andere sind langweilig.“ Mehr sagt der Mann, der 1994 den ersten UNESCO-Lehrstuhl am Zentrum für europäische Studien der Universität in Trier inne hatte, dazu nicht. Mit erheblichem Rechercheaufwand findet sich schließlich eine für deutsche Begriffe absurde Geschichte im Internet: Anfang 2013. Der 75-Jährige ist Gast beim Jaipur Literatur Festival. Löst auf dem Podium eine so heftige Kontroverse aus, dass ein Haftbefehl gegen ihn erlassen wird. In mehreren Interviews erklärt Ashis Nandy, wolle man ihm, der sich seit 40 Jahren für Minderheiten und Menschenrechte einsetze, für seine Ansichten verurteilen, dann gehe er eben ins Gefängnis. Die Zeitungsartikel aus dieser Zeit lesen sich so, als habe man den großen Kritiker bewusst missverstehen wollen, als er über Korruption innerhalb indischer Randgruppen sprach. Auf Kaution wird der Haftbefehl schließlich ausgesetzt.
Ashis Nandy lässt sich von solchen Episoden weder einschüchtern noch den Mund verbieten. Weil er die Vision einer mitfühlenderen, menschlicheren, gewaltfreien Gesellschaft hat. Weltweit. Und so spricht er über gesellschaftliche Missstände, kritisiert die (politische) Elite, die nach westlicher Manier schnellen Wohlstand auf Kosten bestimmter Bevölkerungsgruppen zu erlangen versuche; prangert wohlhabende, überfütterte Seite-3-Politiker an, die er als „arrogant, gewalttätig und korruptionsanfällig“ bezeichnet. Demzufolge sorgt sich der ehemalige Direktor des Neu-Delhi Centre for the Study of Developing Societies (CSDS) massiv über die wachsende Brutalität: „Indien ist mittlerweile weltführend in Sachen Lynchjustiz, der Vergewaltigungen und der Morde an Kindern.“ Er wünsche sich für die Zukunft seines Landes Politiker, die sich wieder auf die wahren Traditionen und Werte ihres Landes konzentrieren, statt es zu einer Supermacht nach westlichem Vorbild ausbauen zu wollen.
Ashis Nandys Traum von Indien ist und bleibt der einer humanen Gesellschaft, deren oberste Werte Empathie und Mitgefühl sind. Hofft, die kommende indische Generation werde die ethische Leidenschaft entwickeln, die alten Werte wie Frieden, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit wiederzuentdecken, sie schützen, nach ihnen leben. Und auch wenn es in zahlreichen Bereichen schwieriger geworden ist, seine Meinung öffentlich zu vertreten: Ashis Nandy wird weiterhin seine Ansichten frei äußern. Wissend, dass er weltweit Rückendeckung dafür erhält. Wissend, dass er weltweit dafür bewundert wird. Wissend, dass er gar nicht anders kann. (Klara S. Kern, 2.8.2019)