Nebel über Nancy

Sehenswürdigkeiten aus dem Spätbarock, Rokoko-Brunnen, verzierte Paläste und Kirchen in einer historischen Altstadt. Nancy hat vielversprechende Sehenswürdigkeiten. Aber mit einem unsicheren, schreckhaften, geräuschempfindlichen Hund durch eine für ihre Jugendstilarchitektur bekannte Stadt streifen, in deren unzähligen, engen und steilen Gassen und Straßen jede Menge Trubel und Lärm zu vermuten ist?
Wir schlendern lieber durch den Parc Brabois mit seinen weitläufigen Wegen und Trampelpfaden. Schauen den Lämmern auf der eingezäunten Schafweide bei ihren ungelenken Bocksprüngen zu. Und beobachten ein junges Mädchen, dessen geschmeidige Biegsamkeit mit beneidenswerter Leichtigkeit daran erinnert, dass Yoga eben nix ist, was nur im Kopf passiert.
„Bonjour“, sagt die vermeintliche Schulschwänzerin, die irgendwas zwischen dreißig und vierzig ist. „De quel genre de race de chien s’agit-il?“ Natürlich verstehe ich erst, als sie die Frage in Englisch wiederholt. Bevor die grazile Person und ich wissen, was passiert, gestehen wir uns unsere desaströsen Gefühle vom Vortag. Erzählt Fanny, die ihren achtjährigen Sohn zur Schule gebracht hat, momentan auf Jobsuche ist. Viel lieber auf dem Land als in der Stadt leben würde. Dass sie jede Möglichkeit nutzt, um hier in den Park zu kommen. Sie mag den Blick über das Tal.
Fanny hat Sommersprossen und ein schlichtes Band um den Unterarm tätowiert. Auf ihrem Sweatshirt steht be proud of who you are. Das veranlasst mich mein Provence-Projekt anzudeuten. „Wirklich? Du bist Autorin? Ich schreibe auch. Gedichte.“ Zu lesen unter fanny.bodchon auf Instagram. Und zu hören bei poetry slams.



Ich habe das Bedürfnis, Fanny zum Frühstück einzuladen. Stattdessen frage ich sie, ob sie eine Madame Dubois kennt. Fanny verneint, verspricht aber, genau wie Ingo, sich umzuhören. Und dann tauschen wir tatsächlich Nummern, weil sie signalisiert, sich gerne noch weiter mit mir unterhalten zu wollen. Vielleicht am Nachmittag? Ich bleibe vage, obwohl ich in dem Moment schon weiß, dass ich um eine Nacht verlängern und ihr eine Nachricht schicken werde. Wir verabschieden uns mit den obligatorischen drei Küsschen auf die Wangen.
Nachdem Jeanne Erica an der Rezeption eine weitere Nacht für mich gebucht hat, will ich Fanny schreiben. Aber mein Handy ist weg. Verloren. Irgendwo im Park. Vermutlich nachdem ich Fannys Nummer eingespeichert habe. Jeanne Erica reißt die Augen auf und schlägt sich die Hände vor den Mund. Später wird sie mir gestehen, dass sie Herzklopfen vor Angst und die Rezeption abgeschlossen hatte. Um für mich zu beten.
Ich renne los. Findet Raluca super. Der Park ist leer. Ich bin trotz allem weder panisch noch außer Atem. Ein junges Wesen mit raspelkurzen Haaren kreuzt unseren Weg. Ich frage hastig auf englisch, ob es mich bitte mal anrufen könne, ich würde mein mobile suchen. Idiotische Aktion – das Geländer, an dem Fanny und ich uns getroffen haben, ist wenigstens sechshundert Meter entfernt. Trotzdem rufe ich meine Nummer mit dem fremden Handy an. Kein Klingeln zu hören. In dem freundlichen französischen Fremdling kämpft sichtbar das Bedürfnis weiter zu joggen mit der offensichtlich in den Genen verankerten Hilfsbereitschaft. Ich bedanke mich. Trabe wieder los. Die Augen auf den Boden geheftet.
Natürlich hat es niemand gefunden. Niemand hat es eingesteckt. Vorne an den Stallungen beim Schloss liegt es. Unschuldig im noch feuchten Gras. Noch auf dem Rückweg zum Campingplatz schreibe ich Fanny I will stay another night. So if you like to meet again please let me know. Klara.
Zwei Stunden später kommt sie mit dem Rad zum Campingplatz. Unter ihrem Träger-Shirt blitzt ein weiteres Tattoo, zwei zarte Ranken mit jeweils einer roten Knospe. Fanny sagt, sie liebt es, englisch zu sprechen, und dass sie in Norwegen das Gefühl hat, zuhause zu sein. Nahtlos knüpfen wir an unserem Gespräch vom Morgen an. Lachen darüber, dass sie, als sie vor einem Jahr von Nantes nach Nancy gezogen ist, genau wie ich heute früh dachte, dass morgens romantischer Nebel über Nancy liegt. „Aber es ist einfach nur schrecklicher Smog.“
Fanny will unbedingt weg aus der Stadt. Zu viele Menschen auf zu wenig Platz. Genau das empfinde ich auch bei unseren deutschen (Groß)Städten. Sie seufzt über das französische Bildungssystem, nennt es eine Katastrophe. Denn Lehrer werden genauso schlecht bezahlt wie Pflegepersonal. („Daran sieht man, was dem französischen Staat seine Bürger wert sind. Nichts.“) Fanny glaubt, dass sich Menschen besser lenken lassen, wenn sie eigenständiges denken nicht lernen, wenn sie möglichst viel unreflektiert konsumieren. Ein gesamtgesellschaftliches Phänomen – weltweit? Halbherzig lästern wir über den negativen Einfluss der Presse (Fanny verweigert Nachrichten und Social Media, die machen sie krank) und freuen uns stattdessen über die Leichtigkeit des Moments und die Schönheit des Augenblicks.
Zwei Stunden, nachdem sie gefahren ist, fragt Fanny per WhatsApp, ob sie später mit Gideon for a little hour and a glass of wine vorbeikommen kann. Unbedingt! Ich besorge drei Portionen Pommes, eine Oragnina und ein Glas Wein (eines habe ich ja noch vom Vorabend) aus dem Camping-Restaurant und bezahle muntere 25 Euro. Ja, Frankreich hat nicht nur ein Bildungsproblem.
Fanny hat Architektur studiert, auch ein paar Jahre als Architektin gearbeitet. Aber der Konkurrenzkampf ist ihr zu viel. Lieber verkauft sie Kleidung. „Ja, wir Franzosen lieben gute Kleidung – und gutes Essen“, sagt Fanny und schneidet den mitgebrachten Himbeersträuselkuchen an. Sie kocht gerne. Deswegen hat sie sich nach unserem Treffen heute früh bei einem Catering-Unternehmen beworben, an dessen Wagen sie zufällig vorbei lief. „Ich fühlte mich plötzlich so stark, im Gegensatz zu gestern.“

Und Gideon? Er stellt Fragen, die ich nur beinahe verstehe, und überhaupt nicht beantworten kann, weil mir die Vokabeln fehlen, und rennt über den mittlerweile dunklen Platz. Bestaunt den Wohnwagen und tätschelt immer wieder so beiläufig Ralucas Kopf, dass die überhaupt keine Chance hat, ihn unsicher anzuknurren. Am Ende des Abends legt er sich zu ihr auf den Wohnwagenboden und grinst sie an.
Im Netz heißt es u.a. bei google: „Nancy ist eine Flussstadt in der Region Grand Est im Nordosten Frankreichs. Die Hauptattraktion ist der Place Stanislas aus dem 18. Jahrhundert. Dieser Platz mit vergoldeten, schmiedeeisernen Toren und Rokoko-Brunnen befindet sich neben verzierten Palästen und Kirchen in der historischen Altstadt (…)“. Habe ich nicht gesehen, die toten Steine. Dafür habe ich die wunderbar lebendige Fanny kennengelernt.
Merci beaucoup.