Der lange Weg nach Hause

En combien de temps pouvez-vous rentrer en Berlin?“

Die vornehme Frauenstimme klingt alterslos. Madame Dubois entschuldigt sich nicht für die späte Störung. Wie schnell ich in Berlin sein kann? Ich weiß nicht mal, wie weit es bis nach Hause ist.

Da ich nicht sofort antworte, sagt Madame in fast akzentfreiem Deutsch und leichter Ungeduld im Ton: „Ich bin ab 23. November für zwei Tage in der Stadt. Sie werden sicherlich ein Treffen einrichten können, Klara, nicht wahr?“

„Natürlich“, sage ich, ohne zu zögern, ohne zu wissen, wie ich das schaffen will.

„Très bien. Dann sind wir am 24. verabredet.“

*

Das Gespräch war vor nicht mal acht Stunden. Geschlafen davon habe ich maximal vier. Heute ist der 19. November. Vor mir liegen 1601 Kilometer. Das wird ein Höllenritt im Rekordtempo.

Egal. Und wenn ich nur achtundvierzig Stunden Zeit hätte – ich werde pünktlich sein.

Pünktlich, um endlich Madame Dubois zu treffen.

Meine heutige Etappe hat schlappe 600 Kilometer, Ranchot, ein Ort mit um die 600 Einwohner, ist das Ziel. Zu erreichen in acht Stunden. Behauptet das Navi.

Hoffentlich.

Aus Rücksicht auf Raluca schweigt das Radio. Und weil ich nachdenken muss. Müsste. Mein Kopf verweigert allerdings penetrant seinen Job, während ich immer ein Auge auf der Tankanzeige habe (noch für 400 Kilometer Diesel), während Wehmut hochkriecht, weil ich doch eigentlich ein Jahr lang mit Little Miss Sunshine durch Südeuropa reisen wollte.

Unkontrollierbare Bilder veranstalten ein heilloses Chaos in meinem Inneren. Im Außen werde ich Stunde um Stunde von einem riesigen Regenbogen begleitet, der sich über die Autobahn spannt. Das lässt mich lächeln und wie wohl die meisten Menschen deute ich das atmosphärisch-optische Phänomen, dieses wunderschöne bunte Lichtband, als gutes Zeichen. Keck erhöhe ich auf das Toleranz-Tempo von 85 km/h.

Eine Spielfilmlänge später als geplant erreichen wir Camping de l’île in Ranchot, einen ganzjährig geöffneten Insel-Platz mit in schickem schiefergrau gekachelten Sanitärhäuschen auf Stelen.

Im Restaurant feiert die Großfamilie des Betreibers den 19. Geburtstag seines Neffen. (Es gibt tatsächlich Sauerkraut, Kartoffelpüree und Kassler, wahlweise Bratwurst.) Der Onkel glänzt allerdings durch Abwesenheit (Urlaub) und wird an der Rezeption von seinen betagten Eltern vertreten. Maman spricht kein Englisch, ist sanft überfordert und dadurch leider nicht sehr zugewandt. Papa hält sich aus geschäftlichen Dingen raus, hat aber Schalk in den Augen und beobachtet mich mit einem Lächeln.

Inzwischen ja geübt, nehme ich den mir zugewiesenen Platz Nummer 12 in Augenschein. Der Blick aufs brodelnde Wasser lässt mich die Bodenwelle übersehen, vor der ich nach sechs Versuchen kapituliere. LMS will sich partout nicht rückwärts drüber rollen lassen.

Ich frage das deutsche Ehepaar (selten waren mir zwei Menschen auf den ersten Blick unsympathischer), ob wir die Plätze tauschen können? Abgesehen davon blockiere ich sowieso alles mit meinem elf Meter langen Gespann.

Er zieht nur die Augenbrauen hoch und vergräbt seine Hände in der braunen Cargohose, sie nickt mit betont gleichgültigem Schulterzucken (bloß keine Worte vergeuden! Wer weiß, wann wirklich welche gebraucht werden) und beobachtet mit süffisantem Lächeln und verschränkten Armen, wie ich mich quäle, meinen Wohnwagen mit purer Muskelkraft zu rangieren (natürlich zickt die Auflaufbremse).

Dafür gibts ein Unterstützungsangebot vom neugierigen Betreiber-Papa. Ich lehne freundlich ab, weil ich mit der Position von Little Miss Sunshine inzwischen ganz zufrieden bin. Weil Grandpère aber der deutschen Alleinreisenden so gerne zusammen mit seinen zwei sehr großen, sehr massigen Enkelsöhnen helfen möchte, lasse ich mich schließlich von seinem schelmischen Lächeln überreden.

Ganz grober Fehler!

Sekunden später gibt Little Miss Sunshine einen kleinen, knarzenden Seufzer von sich. Die drei Franzosen haben sie zu beherzt, zu schwungvoll über den Kies in den einzigen Busch geschoben, der ausgerechnet meine Parzelle begrenzt.

Schräubchen nennt es später Kollateralschaden, während ich vor Wut in die Tischkante beiße.

Wenn man nicht alles selber macht, tobe ich innerlich, während die drei Helden lächelnd abwinken – halb so wild, ist ja niemand gestorben. Sie versprechen in radebrechendem Englisch nach dem Dessert den Schaden zu reparieren.

Selbstverständlich sehe ich die drei nie wieder.

Auf einen gepflegten Tobsuchtsanfall verzichte ich, schon wegen meinen schadenfreudigen Landsleuten gegenüber. Aber in Gedanken töte ich erst Opa, dann die beiden Testosteron gesteuerten Jungs und anschließend den Mistkerl, der mir diesen Schrotthaufen als rundum erneuerten Wohnwagen verkauft hat.

Alles wüten hilft nichts. Raluca braucht endlich Auslauf. Und weil es gerade mal nicht regnet, die Sonne aber schon mit dem Horizont liebäugelt, gibt es die heutige Hunderunde mit dem Fahrrad. Feuchte Kälte, beginnende Dunkelheit. Meine Laune sinkt parallel mit der Temperatur in den einstelligen Bereich, als mein Handy piept.

„I sent you some documents. Did you get them?“

In meinem Emailpostfach finde ich keine Unterlagen, nichts.

Nichts, außer einem Foto.

https://de.wikipedia.org/wiki/Ranchot