Ende ohne Abschied

Es gibt nichts, was weniger zu berechnen ist als das Leben. Es passiert. Ganz leise löst sich dabei die Illusion auf, irgendetwas selber entscheiden zu können. Das Leben lässt sich nicht planen. Niemand hat es im Griff.

Madame Dubois ist abgereist. Ohne Vorankündigung. Ohne ein Wort des Abschieds. Ohne mir eine Nachricht zu hinterlassen.

Wobei das so nicht stimmt.

Vorhin hat Lucien mir eine schwere Holzkiste überreicht.

„Für etwaige Rückfragen zu dem Buchprojekt kontaktieren Sie mich jederzeit gerne, Klara“, hat er gesagt, mir seine Karte und anschließend die Hand gegeben. „Es war schön, Sie kennen gelernt zu haben.“

„Die Freude ist ganz auf meiner Seite“, habe ich gesagt und konnte mir den zynischen Unterton nicht verkneifen.

Lucien hat sich wortlos verbeugt, ist in den Wagen gestiegen und ich glaube immer noch, dass ich träume.

Bis gestern hat mir Madame Dubois Dinge anvertraut, die schlicht ungeheuerlich sind. Klingen wie ausgedacht. Mein Journalistenherz blutet, wenn ich an die Details denke, die ich weiß und trotzdem für immer in den Tiefen meines Gedankentresors verschließen muss.

Hätte sie mir von diesen Ereignissen auch dann erzählt, wenn ich darauf bestanden hätte, selber entscheiden zu dürfen, was ich veröffentliche und was nicht? Wenn ich ihren Deal schlicht abgelehnt, dieses Furcht einflößende Verschwiegenheitsabkommen nicht unterschrieben hätte?

Wieso erinnere ich mich plötzlich an diesen seltsamen Vogel. Wie hieß der noch mal? Dieser Typ, der mit dem Fahrrad auf der Flucht war? Oder vielleicht immer noch ist? Irgendwas mit Gregor. Sälzer? Melzer! Georg Melzer. Vielleicht sollte ich ihn kontaktieren? Keine Ahnung, warum er mir jetzt einfällt.

Ich streiche über das Holz der Kiste. Gehe langsam um den Wohnzimmertisch, meine Augen wandern über die Maserung. Über das Doppelscharnier, mit dem der Deckel zu öffnen ist.

Und dann steht sie vor mir: eine etwa 40 Zentimeter hohe Bronzestatue auf einem quadratischen Granit in Grauschattierungen. Eine stilisierte Frau mit leicht geneigtem Kopf und erhobenen Armen. Jubelnd oder um Hilfe bittend? Um Vergebung flehend? Oder Gnade empfangend?

„Ich vertraue Ihnen, Klara“, steht auf dem beigelegten Kärtchen in gestochener Handschrift.

Was will mir Madame Dubois mit der Figur sagen? Ist sie schlicht ein Geschenk zum Abschied? Als Dank? Oder eine Art Motivation? Symbolisiert sie das Ziel?

Verwirrt, enttäuscht und verärgert über das abrupte Ende unserer täglichen Treffen, an die ich mich in den vergangenen Tagen so gewöhnt habe, versinke ich in Gedanken an Madame Dubois und versuche ihr Verhalten zu verstehen oder doch wenigstens nachzuvollziehen.

Als es klingelt, durchzuckt mich für den Bruchteil einer Sekunde die hoffnungsvolle Überzeugung, dass Lucien zurück ist. Und fast bin ich erleichtert, als er es nicht ist.

Hi, Klara.“ Die rothaarige Frau, um einiges jünger als ich, ein kleines Mädchen auf dem Arm, wirkt erschöpft und gehetzt. Ein weiteres Mädchen, nicht älter als vier, schaut mich neugierig an. Die Frau entschuldige sich über die Störung. „I need you help. I can’t reach Granny.“