Wahrheit oder Gerücht?
Zwei kleine Kinder, den ganzen Tag in unmittelbarer Nähe. Sie streiten. Sie kreischen. Sie rennen durch das Haus. Hopsen auf dem Sofa. Schütten Saft um. Bemalen die Wände. Patschen alles an und hinterlassen ihre klebrigen Fingerabdrücke. Normalerweise würde ich sie im Wald aussetzen. An der Autobahnraststätte festketten. Zur Not auch in den Keller sperren.
Ava und Chloe allerdings, die würde ich sofort adoptieren. Sie sprechen kein Deutsch, lachen über meinen Akzent, und sind so entzückend und zutraulich wie kleine Kätzchen. Nach Eric, meinem kleinen blonden Freund aus der Eifel, bin ich erneut verliebt. Haben diese drei meine biologische Uhr reaktiviert? Obwohl ich die vierzig längst überschritten habe, und bislang ausgesprochen glücklich mit meinem nachwuchsfreien Leben war?

Gestern, kurz nachdem Tom wie ein geprügelter Köter davon geschlichen ist, kam Mary mit den Mädchen runter und ich konnte sie beruhigen, dass sie sich kein Hotel suchen müssen, sondern gerne hier bleiben dürfen, solange sie wollen.
Marys Sorge um ihre Großmutter konnte ich ihr allerdings nicht nehmen – ich weiß nicht, was mit Madame Dubois ist, wohin sie gereist ist. Lucien anrufen? Geht gegen meinen Stolz. Sollte ich Mary seine Nummer geben?
Unsicher, wieviel ich ihr tatsächlich erzählen sollte, habe ich es allgemein gehalten. Dass ihre Ur-Großmutter und ich jeden Tag Schach nach bestimmten Regeln gespielt haben. Dass sie viele Fragen nicht beantworten wollte.
„That doesn’t sound like Granny. Seit Grandpas Tod hat sie das Schachspiel nicht mehr angerührt.“
Dann hat sie mir von Grandpa Louis-Clément Morel erzählt, zwölf Jahre jünger als Madame Dubois, ihr ehemaliger Sekretär und vierter Ehemann, bevor er einen Tag vor dem zehnten Hochzeitstag unter mysteriösen Umständen ums Leben kam.
Polizei und Staatsanwaltschaft haben den Fall nie wirklich zu den Akten gelegt, aber weder einen Tathergang rekonstruieren noch einen Mord beweisen können. Es gibt Gerüchte, Monsieur Morel sei Handlanger der französischen Drogenmafia, wahlweise in illegale Waffenlieferungen verstrickt gewesen. Was Mary mit großer Ernsthaftigkeit behauptet und ich stark bezweifle.
Die Zeitungsartikel aus Le Monde und Le Figaro, die sie mir vorgelegt hat, überzeugen mich nicht. Im Gegenteil. Reißerische Gazettenschmiereien voll wilder Spekulationen und anonymer Anschuldigungen.
Viel wahrscheinlicher erscheint mein Verdacht, dass Mary gerne maßlos übertreibt. Daher bin ich auch nicht näher auf die Reportagen der französischen Kollegen eingegangen, werde aber versuchen, in die Richtung zu recherchieren.
Als Mary jetzt mit den Mädchen in die Küche kommt, lächelt sie künstlich und sichtbar übermüdet.
