Mehr Lametta

Drei Tage sind seit Luciens verstörenden Enthüllungen vergangen. Drei Tage bleierne Brisanz. Die Wucht der vermeintlichen Wahrheit ebbt nicht ab. Madame Dubois und der von ihr in Auftrag gegebene Mord an Monsieur Morel – Gedankenchaos im Treibsand.

Viel zu viele unbeantwortete Fragen.

Den Schock ignorierend, habe ich wie besessen gearbeitet und sie endlich gefunden, die perfekte Struktur für das Buch. Dafür mit jedem Kapitel gerungen, das Tempo noch mal verändert, am Erzählstil gefeilt.

Zwar noch nicht von Kayserling en detail abgesegnet, aber grundsätzlich sei er höchst zufrieden, ließ er mich heute früh wissen. Nun warten wir darauf, dass auch Madame Dubois grünes Licht gibt.

Den Irrsinn dieses Projektes abschütteln? Zurückliegende Ereignisse nüchtern betrachten, wie der Wissenschaftler, der durch das Mikroskop schaut, während er mit kalter Gewissenhaftigkeit seziert, was seziert werden muss? Unmöglich.

Mord verjährt nicht.

„Kiki“, sagt da mein Vater, der plötzlich in der Tür steht, „was hältst du von gemeinsamen Weihnachten?“

Schlank ist er geworden seit seinem Schlaganfall. Das dunkle Haar plötzlich silbern. Seine Stimme hat ihre Stärke noch nicht zurück. Aber er lebt! Er kann sprechen, normal laufen, hat keine Schmerzen mehr, sondern ist voller Tatendrang. Vergessen sein Selbstmitleid, nie wieder am Pult zu stehen und ein weltberühmtes Orchester dirigieren zu können. Im Gegenteil.

„Ich dachte…“, sage ich lahm und versinke in seiner Umarmung.

„Unverhofft kommt oft“, zwitschert meine Mutter. „Keine Widerrede, Klärchen, wenn dein Vater sagt, wir feiern Weihnachten zusammen, dann feiern wir Weihnachten zusammen.“

Ich hasse es, wenn sie mich so nennt. Aber gleichzeitig freut sich das Kind in mir, dass meine Eltern zusammen nach Hause gekommen sind. Und während meine Mutter ihr ewig mädchenhaftes Lachen perlen lässt, sich bei meinem Vater einhakt und mich anstrahlt, verstehe ich nur Weihnachten. Und hüte mich, auch nur verwundert zu schauen.

Wann haben wir eigentlich das letzte Mal zusammen unterm Tannenbaum gesessen, nachdem es das übliche Weihnachtsessen mit zu vielen Klößen, zu süßem Rotkohl und zu fetter Soße gab? In den späten 1980ern, möchte ich behaupten.

„Wunderbar!“

Wie üblich bestimmt mein Vater, wer was zu tun hat. Er wird mit Tom den Baum selber schlagen. Meine Aufgabe ist es, die Nordmanntanne üppig zu schmücken. Selbstverständlich in Rot und Gold. Und viel Lametta, weil früher war mehr davon, und es ist an der Zeit, früher Konkurrenz zu machen.

Ohne zu überspielen, wie konsterniert ich bin, bombardiere ich meine Eltern mit wütenden Blicken.

„Wieso jetzt mit Tom?“

„Ich verstehe die Frage nicht“, säuselt meine Mutter und greift mit kritischem Blick nach meinen Haaren. „Mäuschen, soll ich dir noch rasch einen Termin bei Lars machen? Ein paar Highlights? Du könntest…“.

„Ich bin sehr zufrieden mit meinen Haaren“, zische ich. „Außerdem gehe ich nicht zu diesem… zu Lars.“

„Weil Tom zur Familie gehört“, sagt mein Vater ruhig und schaut mich mit diesem Blick an, der keinen Widerspruch duldet.

Empört mustere ich meine Eltern, die sich vor wenigen Wochen noch gegenseitig zerfleischen wollten. Ihre Scheidung war beschlossene Sache.

Süffisant erkundige ich mich nach Charlotte, die ja Charlène heißt, und mein Vater winkt ab.

Keine ernste Geschichte. Viel zu jung und damit zu anstrengend. Meine Mutter gackert albern und ich verdrehe die Augen – allerdings nur innerlich. Es ist ja nicht das erste, und wird vermutlich auch nicht das letzte Mal sein, dass meine Eltern glauben, den anderen bedingungslos zu lieben und nicht ohne ihn leben zu können. Kurz nachdem sie ihm die Pest an den Hals gewünscht, wahlweise er ihr mit wortloser Verachtung begegnet ist.

„Weihnachten sollte man immer im Kreis der Familie verbringen“, sagt meine Mutter und küsst meinen Vater, während er ihren Hintern tätschelt.

„Recht hast du, mon amour“, säuselt er.

Mir wird übel. Nicht wegen der zum hundertsten Mal wieder entflammten Gefühle meiner Eltern füreinander. Aber der Gedanke, mit ihnen UND Tom Weihnachten zu feiern…

„Kiki, Liebes“, sagt mein Vater, „am besten triffst du dich gleich mit Tom. Ihr habt sicherlich noch eine Menge zu besprechen.“

Ich zögere, spüre den Blick meiner Mutter, nicht ausgerechnet jetzt die Wahrheit zu sagen. Viel ruhiger als ich bin, versichere ich ihnen, wie sehr ich sie als meine Eltern liebe. Meistens jedenfalls.

„Trotzdem werde ich nicht mit Tom unterm geschmückten Weihnachtsbaum heile Welt spielen. Was ihr macht, ist eure Sache. Auf mich werdet ihr bei diesem Theater verzichten müssen.“

Ich rausche raus und während ich in mein Zimmer stapfe, rufe ich Lucien an.

„Klara Kern hier“, sage ich pampig und Lucien ist wie üblich von ausgesprochen höflicher Freundlichkeit, die er mit feinem Spott garniert. Was mich dieses Mal nicht aus der Ruhe bringt, dazu bin ich zu aufgewühlt.

„Steht das Angebot von Madame Dubois noch, mit ihr Weihnachten zu feiern? Um diese nutzlosen Tage für unser Projekt zu nutzen?“

Lucien schweigt und ich fühle mich wie der größte Idiot auf Erden. Wie konnte ich ernsthaft annehmen, jemand wie Madame Dubois möchte ausgerechnet mit jemandem wie mir Weihnachten verbringen?

„Einen Moment“, sagt Lucien, ich lande in der Warteschleife, und bin versucht, das Gespräch zu beenden. Gut, dass ich es nicht tue, denn mit einem Zwinkern in der Stimme habe ich jetzt Madame Dubois am Telefon.

„Packen Sie ein paar Sachen ein, Klara. Gerne leger und bequem, vor allem aber warm. Allerdings brauchen Sie auch zwei elegante, vorzugsweise lange Kleider. Der Wagen holt Sie in einer Stunde ab. Sie bleiben doch über Silvester?“