God Jul

Sicherheit ist eine Vorstellung, ein Wunsch.
Selten kaum mehr, als eine zerbrechliche Illusion, die wie eine schillernde Seifenblase aufsteigt, um unerwartet und lautlos einfach so zu zerplatzen.
Vollkommen übermüdet und dennoch schlaflos, versinke ich in dicken Kissen, in einer übergroßen Daunendecke. Bin innerlich ganz klein und still. Dankbar für das Gefühl von Geborgenheit. Verwirrt vom Tempo der Entwicklung. Erschöpft von den Gesprächen der vergangenen Stunden. Überfordert, aber nicht überrascht.
Während ich in den mit Sternen durchlöcherten Nachthimmel blicke, der Mond leuchtet in beinahe vollkommener Perfektion ins Zimmer, versuche ich zu sortieren, was seit Luciens Anruf vor wenigen Tagen passiert ist. Und muss mir eingestehen: je mehr ich erfahre, desto weniger begreife ich.
Obwohl sie mich herzlich willkommen geheißen hat, hält mich Madame Dubois auf höfliche Distanz. Von rückhaltloser Offenheit weiter entfernt denn je. Trotz der vertraglich festgeschriebenen Verschwiegenheitsklausel. Trotz unserer gemeinsamen Stunden am Schachbrett.
Immerhin kenne ich jetzt den Schlüssel. Und der ist Lucien. Ihm vertraut Madame Dubois bedingungslos. Weil er ihre dunkelsten Geheimnisse kennt und wahrt? Weil er sie nicht für ihr Handeln in der Vergangenheit verurteilt, sondern bewundert für das, was sie tut, wer sie ist?
Spätestens seit unserem gestrigen Flug nach Stockholm weiß ich: ohne Luciens Hilfe werde ich dieses Buch nicht so schreiben können, wie mein Ehrgeiz es verlangt. Er ist Madame Dubois‘ Ein und Alles. Viel mehr als ein leibliches Kind oder ein Ehemann je sein könnten. Viel mehr als nur Assistent, Chauffeur und Pilot. Er ist ihr Beichtvater, ihr moralisches Gewissen, ihr Leitfaden, ihr alleiniger Vertrauter.
*
Im Privatjet zum Flufhafen Arlanda. Von Stockholm dann noch eine dreistündige Autofahrt Richtung Nordosten durch die verschneite Winterlandschaft. Schweden von seiner schönsten Seite mit blauem Himmel und minus neun Grad. Der Tag vor Heiligabend.

Es ist immer gefährlich, wenn Wünsche plötzlich Realität werden.
Während der Fahrt habe ich Lucien viele Fragen gestellt, die mir unter den Nägeln brannten. Raluca schlief in einer Box im Kofferraum.
„Was verbindet Sie mit Madame Dubois?“
„Ist das für Ihr Buch von Bedeutung?“
„Ja.“
Es war nicht leicht, seinem Blick im Rückspiegel standzuhalten. Ich hasse mich für dieses Klischee, das ich gerade so erbärmlich erfülle. Aber ich kann nicht abstreiten mich von äußerlich attraktiven, geheimnisvollen Männer mehr angezogen zu fühlen als von blutleeren, schmalbrüstigen Verwaltungsfachangestellten.
„Ich verdanke ihr alles“, hat Lucien schließlich ruhig geantwortet. „Ohne Madame Dubois wäre ich entweder tot oder säße im Gefängnis oder wäre einfach nur eine lebende Leiche.“
Was genau er damit meinte, wo sie sich unter welchen Umständen kennengelernt haben, wie und warum sie ausgerechnet ihn quasi vor dem Untergang gerettet hat, darüber hat er geschwiegen.
Jetzt, mit dem Abstand von einigen Stunden, mit eingeschaltetem Hirn, rufe ich mir streng in Erinnerung: phantastisch aussehende Männer, die in ihrer Rolle als unwiderstehliche Einzelkämpfer aufgehen, sind vielleicht sogar noch ganz passable Liebhaber. Am Ende jedoch nichts weiter als egozentrische, selbstverliebte, erbärmliche Beziehungsautisten.
Gefährlich, besonders für Frauen in meiner Situation. Lieber Gott, lass ihn nicht schwul sein.
„Klara?“
Rasch setze ich mich auf, als Madame Dubois bittet, hereinkommen zu dürfen.
„Ich wollte nur sicher gehen, dass Sie alles haben, was Sie brauchen“, sagt Madame Dubois mit irritierender Wärme und überrascht versichere ich, wunschlos glücklich zu sein, worauf sie lächelnd fragt, ob ich ihr ein offenes Wort gestatten würde. Neugierig gestatte ich selbstverständlich.
„Klara, ich mag Sie“, sagt Madame Dubois, „mehr, als Sie sich vorstellen können. Ich halte Sie für klug und ich vertraue Ihnen.“
„Vielen Dank“, sage ich verlegen und stolz und versuche souverän zu wirken in meinem uralten Lieblingsschlafanzug.
„Erlauben Sie einer alten Frau Ihnen ungefragt einen freundschaftlichen Rat zu geben: Gegen Gefühle ist man niemals machtlos. Achten Sie darauf, sich nicht in die falsche Person zu verlieben.“
Mein Gesicht beginnt augenblicklich zu glühen, was Madame Dubois höflich ignoriert, während sie mich anlächelt. „Schlafen Sie gut, Klara. Und freuen Sie sich auf Ihr Weihnachtsgeschenk. – God jul.“