Cunninghams Garden

Forgodsake“, murmelte Dickie Cunningham überrascht. Das komplette Frühstücksgeschirr. Acht Teller. Acht Untertassen. Sieben Tassen. Die achte Tasse blieb warum auch immer unversehrt. Genau zehn Sekunden. Dann warf Dickie sie mit einem Grunzen zu ihrer zerschmetterten Porzellanfamilie auf den Steinfußboden. Und da lagen sie nun, alle 24 geblümten Utensilien, zersplittert vereint im tönernen Tod. Ein schneller Blick auf die Uhr. Es war kurz nach sieben. Frühstück gab es von acht bis neun. Das Servier-Problem ließe sich in unter zwei Minuten lösen. Dickie müsste nur die Holzstufen zu ihrer Wohnung nach oben und… Indiskutabel. Einmal aus dem heiligen Gral entnommen, würde ihr eigenes Geschirr nie wieder den Weg zurück in ihre private Küche finden. Sie griff zum Telefon, steckte den Mittelfinger in die Wählscheibe. 9-8-1-5-3-9-8. Sie schob mit dem linken Fuß die Scherben, die vor wenigen Augenblicken noch eine anmutige Kaffeetasse gewesen waren, zum traurigen Rest des Services, rieb sich das rechte Auge und presste den Hörer ans rechte Ohr. 
Yes? “
„Mary, Darling, guten morgen“, flötete Dickie, „how are you?“ 
Und Mary Darling Ridley, Freundin seit 15, Nachbarin seit 30 Jahren, flötete zurück, was für eine nette Überraschung (dabei telefonierten sie jeden Morgen), ob Dickie es schon gesehen hätte, kein einziges Wölkchen am Himmel, es würde ein herrlicher Tag werden und für die kommende Woche war auch nur Sonnenschein angesagt, da könnten sich die Touristen aber freuen, dass sie den perfekten Blick auf die Bay hatten, wo doch normalerweise um diese Jahreszeit der Nebel sich nicht vor Mittag lichtete. Dickie stimmte Mary zu. Ein wundervoller Tag. Perfekt, um die Wäsche nach draußen zu hängen. Sogar ein Spaziergang wäre eine wundervolle Option, wenn man denn gerne spazieren ginge. Mary fragte, ob mit Dickie alles in Ordnung sei. Dickie hatte doch in ihrem ganzen Leben doch noch keinen Spaziergang gemacht. Was kompletter Blödsinn war. Aber Dickie widersprach nicht, sondern lauschte der atemlosen Mary, die jetzt ein wohldosiertes Zittern in ihre Stimme streute, während sie seufzte, dass Frank nun doch nicht zur Hochzeit seiner Schwester Elizabeth kommen würde. Frank war Marys Jüngster, ein zielstrebiger, humorloser Snob, der vor drei Jahren nach Australien ausgewandert war und, wenn man Mary glauben wollte, eine brillante Karriere als Anwalt hinlegte. Natürlich flog man da nicht um den halben Erdball, wenn die Zwillingsschwester vor den Altar trat. Mary gab eine Art Stöhnen von sich, weil das nämlich vermutlich auch bedeutete, dass Frank auch nicht zu Grannys 98ten Geburtstag im August kommen würde. Mary verschluckte sich, seufzte sehr tief und fragte dann munter, ob wenigstens bei Dickie alles in Ordnung sei. 
„Ich habe gerade mein letztes Geschirr getötet.“
„Tatsächlich.“
„Ja.“
„Aha.“ Mary holte Luft und fragte betont gleichmütig: „Tatsächlich. Warum?“
„Deins gefällt mir einfach besser.“
Mary versprach, Charlotte sofort mit Ersatzgeschirr rüber zu schicken. 

Peggy O’Byrne war ja vergangenen Monat gestorben und keine ihrer Töchter hatte ihren Laden übernehmen wollen. Nun gab es in Castletownbear niemanden mehr, der Geschirr und Flaschenöffner, Grillzangen, Mülleimer, Zitronenpressen oder was man sonst so im Haushalt brauchte, verkaufte. Es war eine Schande. Aber Pete hatte Dickie vor ein paar Tagen, als er Bananen abwog und ihr die Tomaten in die Tasche zählte, verraten, dass Lilian McMurphy, die Schwiegertochter von Rick und Fiona, plane, Peggys Laden wieder zu eröffnen. Dickie hatte nur spöttisch geschnaubt. Als würde das Modepüppchen, das sich seit ihrem 12ten Geburtstag für was Besseres hielt, so etwas gewöhnliches wie Kochtöpfe oder Klopapierhalter verkaufen. 
Dickie hörte jemanden an die Fensterscheibe klopfen, blickte in Charlottes strahlendes Mondgesicht und winkte sie herein. Charlotte riss ihre schräg stehenden Augen weit auf, die verrieten, dass sie ein downy war, hielt in den Händen den Korb mit Geschirr.
„Grandma sagt, du darfst es behalten.“ 
„Du bist meine Rettung, Liebes.“ 
„Das bin ich immer“, antwortete Charlotte ernsthaft. 
„Ja, Sonnenschein, das bist du. Immer.“
„Ich mag deine Hose“, sagte Charlotte, „Grandma trägt nie so bunte wie du.“
„Grandma ist ja auch eine Dame“, sagte Dickie, „ich bin nur eine verrückte alte Schachtel und farbenblind noch dazu.“  
Und dann erlaubte sie Charlotte den Teig für die crepes in die gusseiserne Pfanne zu geben, und anschließend, als Dickie den goldgelben, perfekten, runden, Knusperfladen auf einen Teller hatte gleiten lassen, ihn mit vier dünnen Bananenscheiben, sechs Himbeeren und sechs Blaubeeren zu garnieren. Anschließend durfte Charlotte auch noch zwei Esslöffel creme darüber geben, den Fladen einrollen und in die aus den Seiten herausquellenden cremige Sahne eine Blüte aus Dickies Garten stecken. Am liebsten hatte Charlotte die zwischen blau und rot changierenden Hortensien. 


***

Ella sah dem grauen Greyhound nach, der sie von Dublin runter nach Cork gebracht hatte. Elf Touristen waren ausgestiegen, elf wieder eingestiegen. War es wirklich die richtige Entscheidung gewesen, nach Süden zu gehen? War es überhaupt richtig gewesen, sich der Verantwortung zu entziehen, vor allem zu fliehen? Man konnte sich nicht für immer verstecken. Konnte man aber vielleicht doch. Vielleicht würde sie eines Tages zurück müssen. Vielleicht sogar wollen. Vermutlich sogar früher als später. Aber nicht jetzt.

Ella schulterte ihren Rucksack, orientierte sich. Die Central Bus Station lag auf der anderen Seite vom River Lee. Sie überquerte die linke der beiden Steinbrücken und stand wenige Minuten später an der richtigen Haltestelle. Abfahrt war in sieben Minuten. Sie ergatterte im Bus weiter nach Südwesten den letzten Fensterplatz, direkt hinter dem Fahrer und schloss sofort die Augen. Sie hatte kein bestimmtes Ziel, wollte einfach nur weg aus Cork, das so voller schlechter Erinnerungen steckte. 

Als sie drei Stunden später aufwachte, fragte sie ihren Sitznachbarn, der irgendwann eingestiegen sein musste, wo sie waren. Der weißblonde junge Mann ohne Augenbrauen verstand ihre Frage nicht, weil er kein Englisch sprach und lächelte nur entschuldigend. Ella lächelte ebenfalls, sah aus dem Fenster und ließ die sanften Hügel an sich vorbeiziehen, ohne sich die Route des Busses ins Gedächtnis zu rufen. Welche Rolle spielte es schon, wo sie war? 

Das war ihr neues Leben. Ohne Ziel, ohne Plan. Vielleicht war die Entscheidung nicht ganz freiwillig, vielleicht auch sehr überstürzt gewesen. Aber sie war richtig. Definitiv. Auch nach fünf Monaten bereute sie es nicht, als Rucksacktouristin unterwegs zu sein, nicht zu wissen, wen sie treffen, wo sie schlafen, was sie erleben würde. Irland hatten sie vom ersten Moment mit offenen Armen empfangen Jeden Tag aufs Neue. Niemand auf der Insel hatte was zu verschenken, aber alle waren hilfsbereit und freundlich. Länger als eine Woche blieb sie nirgends. Schlief meist auf einer viel zu weichen Matratze, stapfte tagsüber mit durchs Watt und sammelte Algen oder Wattwürmer, sie trieb Schafe auf die Weiden, stopfte frisch geschorenen Schafspelz in riesige Säcke, servierte Pints und Irish Stew, schälte verwachsene Möhren oder harkte Parkwege. Sie spürte das Leben, vermisste ihr altes immer seltener und bemerkte fast nebenbei, dass alles, was immer wichtig gewesen war, keine Rolle mehr spielte. Sie musste sich nicht sorgen, sich nicht kümmern. Deutschland war ein anderer Planet, Lichtjahre entfernt, kaum mehr als ein schwarzes Loch, dessen Sog man sich am besten entzog, indem man nicht mehr daran dachte. 

Zwischen sanften Hügeln und schroffen Küsten war sie längst zur Ruhe gekommen. War dankbar für den Moment und lebte nicht mehr im Morgen und schon gar nicht mehr im Gestern. Als der Bus die ersten Häuser von Castletownbear erreichte, beschloss Ella auszusteigen. Der Ort war eines dieser unzähligen irischen Straßendörfer, mit schwankenden Einwohnerzahlen so um die 1000. Man wohnte in eingeschossigen bunten Häusern, trank sein Pint in einem von drei Pubs, kam täglich zum Supervalue, weniger um Lebensmittel zu kaufen, als um zu tratschen. Einige wenige ließen Fremde in den Zimmern und Betten ihrer längst ausgezogenen Kinder schlafen. Vermutlich kannte hier jeder jeden, die meisten waren irgendwie miteinander verwandt, das Leben war unaufgeregt und voller Entbehrungen, es wurde gestöhnt über die Vergreisung, weil die fehlenden Jobs die Jugend nach Übersee trieben. Der Celtic Tiger brüllte schon länger nicht mehr. 

Genau gegenüber der Haltstelle, wo der Busfahrer Ella mit einem sonoren take care, dear, ihren Rucksack vor die Füße gestellt hatte, kam in diesem Moment eine alte Frau in absurd bunten Hosen und mutig unfrisierten weißen Haaren aus dem Supervalue, stieg in einen uralten Wagen, dessen Anlasser sich weigerte, seinen Dienst zu tun. Seine Besitzerin hatte den längeren Atem, also gab der Anlasser auf und der Wagen sprang an, schoss aus der Parklücke, schien für einen Moment unkontrolliert zu schlingern (…).