
Die Hand meines Vaters
Gedanken zu dem, was irgendwann gewesen sein wird
Die Hand meines Vaters hätte führend sein sollen. Fürsorglich, schützend, selbstbewusst und zuversichtlich, sanft tröstend, liebevoll. Sie war all das nur selten. Aber sie passte zu seiner kleinen mit den Jahren immer rundlicher werdenden Gestalt, die einst schlank und durchtrainiert gewesen war. Diese Hand mit ihrer breiten, flachen Warze unterhalb des Daumengelenks, ein wenig dunkler als der Rest der Haut, hat die Pinne seiner Jolle gesteuert, mit selbstverständlicher Sicherheit und einer Freude, die glucksend durch den Körper floss. Hat mit einer automatischen, unbewussten Bewegung über die Stirn gewischt, nachdenklich über den Kinnbart gestrichen. Weich und trocken war sie immer. Ruhig, wenn es darum ging das Fernglas zu halten. Geduldig, um den Takt auf dem Knie zu klopfen. Harsch und wild, wenn der Spielverlust drohte. Dann bekam die Hand ein Eigenleben, roh fegte sie die Figuren vom Brett. Zackig schrieb diese Hand in roter Tinte Anmerkungen und Noten, schwungvoll unterschrieb sie Briefe, Rechnungen und Beschwerden. Kraftvoll griff diese Hand in die Tasten aus Elfenbein, kommunizierte dabei mit der linken, um den Klang zu vervollkommnen. Dozierend fuhr sie über Karten, andächtig über versteinerte Baumstämme. Fordernd schwang diese Hand den Taktstock, energisch umfasste sie ein Stück Kreide und schrieb damit gestochene Sätze auf die grüne Tafel. Ehrfurchtsvoll hielt sie den Pinsel. Und dann wurde es immer weniger, was die Hand meines Vaters tat. Noch konnte.
Sie wurde kraftloser. Zitterte und verschüttete dabei das Kaffeepulver. Umklammerte wie hilflos den eleganten Füllfederhalter, der die Buchstaben nur noch krakelte. Immer häufiger ruhte die Hand zwischen den Seiten eines Buches, während unregelmäßige Schnarcher die Stille des Vormittags durchbrachen. Am Tag nach seinem fünfundsiebzigsten Geburtstag brauchte die Hand meines Vaters die Hilfe der anderen, um die Wochenendausgabe der schweren Zeitung mit viel politischen und wirtschaftlichen Informationen ans Ohr zu halten, während ein spitzbübisches Lächeln die Worte formte, ich höre gar nichts. Sein sonst inzwischen oft so leerer Blick, der sich in seiner eigenen Welt verlor, die uns ausschloss, hatte für den Moment ein versöhnliches, waches Leuchten.
Wann genau aber sah ich zum ersten Mal bewusst die Hand meines Vaters, die er kein einziges Mal gegen uns erhob? Die unbeholfen den Kopf tätschelte, der Trost suchend an seiner Schulter lehnte oder verlegen den Rücken klopfte, statt streichelnde Nähe bei einem Wiedersehen zulassen zu können. Die Hand meines Vaters betrachtete ich das erste Mal bewusst an einem diesigen Morgen Ende September, als er meine kleine Schwester ins Auto setze, die Augen rot und verquollen und mir an der Auffahrt seine rechte Hand hinhielt, mich fragte, ob mir etwas auffiele. Ich wusste was er meinte und sah erschöpft auf seine Hand, die jetzt auf dem Schaltknüppel zitterte. Vielleicht lag sie auch ruhig und meine Augen zitterten. Wir alle zitterten seit Tagen, weinten abwechselnd, manchmal gemeinsam.
Ich sah auf diese weiche Hand, der die Schwielen fehlten, weil es Akademikerhände waren, die meinen Vater auszeichneten, gedrungene Hände mit hellblonden Härchen auf dem Handrücken und den drei mittleren Fingern. Ich hätte seine Aufforderung zu schauen nicht gebraucht, hatte ich es doch schon gesehen, als er den Frühstückstisch deckte, als er die Koffer im Wagen verstaute. Ich sah den schmalen hellen Streifen an seinem Finger, der den kompletten Körper, den ganzen Mann, den Vater so verletzlich machte, weil er die größte Tragödie unseres Lebens erzählte. Der Blick war wie ein brennender Stich, der sich durch den Körper fraß, in den Hals bohrte, ins Herz und in den Magen. Der nackte, empfindliche Finger an der rechten Hand meines Vaters blieb die gleiche Zeit nackt, empfindlich, und leer wie ihn vorher voller Selbstverständlichkeit und Stolz das goldene Sinnbild der verbindlichen Zugehörigkeit geziert hatte. Ann diesem Morgen im September wurde dieser nackte Finger zum Symbol des Scheiterns seines Lebenstraum. Die Hand meines Vaters war ein Feingeist. Sanft und aufmerksam dem geschriebenem Wort gegenüber, vorsichtig die Seiten historischer Atlanten umblätternd, mit den Fingerspitzen sehnsüchtig über die glatte Rundung eines Globus streichend, so ungelenk und schüchtern ein weibliches Antlitz liebkosend. Und dann, zehn Tage nach seinem letzten Geburtstag, als die Hand nicht einmal mehr mit einer Gabel in die Torte stechen konnte, sah ich die Hand meines Vaters zum letzten Mal. Sie umschloss einen silbernen Engel. Durch das geöffnete Fenster flüsterte eine sanfte Brise, die Nachtluft strich über die Hand, die kalt geworden war.