Lügenspieler

Es riecht nach Holz, nach feuchter Erde, nach Heu und Schmetterlingen. Die Sprossenfenster ohne Sprünge, alle Latten fest, weiß und oben rotbraun. Im Holz keine Risse, die Wände trocken. Die beiden Stege ragen ins Wasser, weicher Sand, nur einen halben Meter breit, eine kleine Hütte, vor dem Haus eine Bank, zwei Birken, ein sanfter Hang. Die Luft vibriert, obwohl es windstill ist. Niemand weiß, woher er kommt, dieser Geruch. Er ist fremd. Wie wir. 

Angekommen sind wir am späten Nachmittag. Als die Sonne alles in goldenes Licht hüllt. Ein so weiches Licht, dass es weh tut. Wahrscheinlich bin ich die einzige, die so empfindet. Es war eine lange Reise hierher, auf diese seltsame Insel, die so karg ist. Karg, ruhig, einsam. Eine von achtzigtausend. Oder sind es mehr? Niemand kann sie zählen, hat es je getan. Zu viele gibt es. Unsere hat nicht einmal einen Namen. Einsam liegt sie im Meer, nur am Horizont, in nördlicher Richtung sind ihre Schwestern zu erahnen. Der Himmel ist blau, das Meer grau und weiß, die Insel karg und wir nervös. 

Die Fahrt war lang. Fast acht Stunden hat sie gedauert. Erst der Flug, der kurze Aufenthalt in Stockholm, dann die Überfahrt mit dem Boot, auf dem Taxi steht. Eero heißt der Mann, der uns durch die Landschaft aus Inseln gefahren hat. Vorbei an winzigen Häusern in Gelb und Weiß, an Stegen mit Booten, an Menschen, die uns zuwinken. Durch eine Enge, vorbei an einer Festung. Er starrt auf das Meer, steuert mit beiden Händen. Er spricht kaum englisch, niemand von uns schwedisch. Der Motor ist so laut, dass wir hätten schreien müssen, um uns zu verstehen. Also schweigen wir, gucken, beobachten, tauschen verlegene, ablehnende, unsichere Blicke. Zusammengepfercht, das Gepäck zwischen den Füßem, warten wir auf das Ziel. Untätig zu sein, ist anstrengend. 

So viele unausgesprochene Fragen lasten auf mir. Dabei bin ich aufgeregt, freue mich auf das, was kommt. lch war noch nie in Schweden, noch nie auf einer dieser Inseln, die fast alle unbewohnt sind. Im Winter friert manchmal das Wasser und die Menschen leben abgeschnitten von der Welt. Wie vor hundert Jahren. Ich bin froh, dass Sommer ist. Einmal in der Woche, Donnerstags, werden wir einen anderen Menschen zu sehen bekommen. Ob es Eero sein wird, der die Lebensmittel bringt? 

Dann stehen wir da, in dem warmen Licht. Stehen mit unseren Taschen und Koffern auf dem Steg. Das Taxi und Eero, unsere einzige Verbindung zur echten Welt, verschwindet. 

Leon will wissen, was jetzt machen, niemand hat eine Antwort. Renas Stimme ist schrill, besonders wenn sie verächtliche Sätze ausspuckt wie, Scheiße, ist das primitiv. Johan zuckt nur die Schultern. Alina lacht und heißt uns willkommen in Takkatukkaland. Sie macht mich wütend. Ihre Unbeschwertheit irritiert mich. Oder tut sie nur so? Überspielt sie ihr Unbehagen? Menschen, die aus jeder Situation nur das positive ziehen, sind verdächtig. Nichts nehmen sie ernst. Sich nicht, das Leben nicht und andere schon gar nicht. 

Ich habe Hunger. Und ich will ein Bier, sagt Tim. 

Er hat ständig Hunger, sein Bierkonsum ist widerlich. Ein Wunder, dass er überhaupt noch stehen kann. Während der Fahrt hat er acht Halbe getrunken. 

Bier ist eine gute Idee, sagt Johan und lacht ein tiefes Lachen. Es erinnert an das Brummen eines Bären. 

Was meinst du, was machen wir als erstes? fragt mich Leon. 

Leon ist groß und schlacksig. Ein hässlicher Kerl. Aber er hat eine Art, die ihn sympathisch macht, irgendwie. Obwohl er schiefe Zähne und fast Glatze hat. Armer Kerl, noch keine dreißig und sieht schon aus wie sein Großvater. 

Warum gucken eigentlich mich alle an? Ich hasse Tim und seinen spöttischen Blick jetzt schon. Johan schaut freundlich, Rena genervt und Alina abwartend. 

Erst essen. Dann sehen wir weiter, sage ich. 

Rena meint, wenn es hier Viehzeug gibt, fahre ich wieder. 

Niemand nimmt sie ernst, Tim grinst und sagt, jede Menge und alle haben nur auf dich gewartet, Baby. 

Rena zickt ihn an, denn sie weiß, dass sie das nicht wirklich will, wieder fahren. Und auch nicht kann. Niemand kann es. Wir müssen bleiben, bis zum letzten Tag. Auch Rena. Das haben wir unterschrieben. 

Dann kommt die Nacht. Unendlich, in einem irritierenden Schwarzblau. Überall Sterne. Keiner von uns hat je den Himmel so gesehen. Er besteht nur aus funkelnden, leuchtenden Löchern. Lichter, die immer näher kommen, je länger man hinauf starrt. Die zu Mustern werden. Gesichter entstehen, Figuren. 

Ich liege auf dem Rücken, die Arme weit ausgebreitet. Wie Jesus am Kreuz. Schutzlos, ausgeliefert, verletzlich. Warum bin ich hier? Warum habe ich mich auf das Spiel eingelassen? Ich riskiere meinen Job, meine gesicherte Existenz. Und wofür? Für Geld. Viel Geld. Ich bin käuflich. Wie die anderen. Wie jeder. Ich habe nie gedacht, dass ich es tatsächlich bin. Ich würde es nicht mal für eine Millionen tun. Dachte ich. Aber jetzt werde ich das Geld bekommen, werde es nehmen. Durchhalten, aIle Regeln befolgen, gewinnen. Reich sein. Unabhängig. Frei. Das ist das einzige, was zählt. Alles andere ist egal. 

Werden wir es schaffen, fragt Alina. 

Sie steht neben mir. Guckt auf mich herab. Ich setze mich auf, versuche, in ihrem Gesicht zu lesen. Doch da ist nichts, nichts außer einem freundlichen Lächeln. Mich stört der Plural in ihrer Frage 

Zweifelst du, frage ich. 

Nein, natürlich nicht, sagt sie fröhlich

Warum fragst du dann.

Warum bist du so abweisend, fragt sie und klingt verletzt.

Weil du störst. 

Sie sagt nichts, guckt und geht. 

In der ersten Nacht teilen wir uns jeweils zu dritt ein Zimmer. Weil niemand in der ersten Nacht alleine sein möchte. Weil wir uns nicht einigen konnten, wer putzt. Tim findet, er hat wichtigeres zu tun und außerdem stört ihn das bisschen Dreck nicht. Ich habe mit Leon und Johan geputzt, Alina hat sich ums Essen gekümmert. Rena ist verschwunden und erst wieder aufgetaucht, als Alina die Nudeln auf den Tisch gestellt hat. 

Es gibt nur Doppelbetten aus Holz, mit harten Matratzen. Decken, Kissen und Bettzeug finden wir in einem Wandschrank. Die beiden Zimmer, die wir sauber gemacht haben, sind aus Holz. Alles ist aus Holz. Die Böden, die Decken, die Flure, die Treppe, das Geländer. Nur die Küche hat einen Steinboden. In den Zimmern liegen Teppiche. Dick, in gedeckten Farben. Die Wände sind nackt und warm. Auf zwei Etagen gibt es sechs Schlafzimmer. Ein Kaminzimmer, eine Bibliothek. Eine große Küche, zwei Bäder. Die Türen zum Keller und zum Dachboden sind verschlossen. Tim und Johan wollen sie aufbrechen. 

Nach dem Essen scheint niemand mehr müde zu sein. Tim legt die Füße auf den Tisch, trinkt Bier. Und erzählt von seiner Zeit im Internat. Johan war auch im Internat. Die beiden versuchen sich mit ihren Anekdoten zu übertrumpfen. Leon sagt nicht viel. Er hört zu. Lacht, wenn Tim lacht. 

Rena versucht mit Johan zu flirten. Entweder er bemerkt es nicht oder es ist einfach Taktik. Alina hat sich eine Decke geholt. Sie sitzt in der Ecke der Holzbank und hat die Arme um die Knie geschlungen. Ich mag sie immer noch nicht, aber sie ist hübsch. Das Licht der Kerzen gibt ihrem Gesicht etwas katzenhaftes. Sie hat lange blonde Locken. Geschickt gefärbt, aber gefärbt, und damit nicht echt. Was ist noch falsch an ihr? Warum mag ich sie nicht? Johan wirft Alina einen Blick zu. 

Morgen legen wir richtig los, Kinder, sagt er. 

Womit, fragt Alina und sieht ihn erwartungsvoll an, wie ein Kind seinen Papa. 

Wir entscheiden, wer wofür verantwortlich ist, sagt Johan und schaut mich an. 

Sicher, sage ich.

Ich finde Pläne beruhigend. Sie sind etwas, an das man sich halten kann. Wie Regeln, wie Vorschriften. Ein Plan gibt Sicherheit. 

Ich koche, sagt Alina sofort. 

Leon zuckt mit den Schultern, ist ihm recht.

Tim, Johan, frage ich. Was macht ihr.

Was so anliegt, sagt Tim und öffnet die nächste Bierdose.

Ich hab Bock auf Holzhacken, sagt Johan. 

Wilde Tiere töten, sagt Tim und beide grinsen sich an. 

Alina und Rena finden das lustig, Leon ringt sich ein Lächeln ab. 

Vielleicht gibt’s was zu reparieren, sagt er langsam. 

Es hat keinen Sinn. 

Was machst du eigentlich, fragt Tim und Protest mir zu. 

Was so anliegt, antworte ich bissig. 

Er ext das Bier.

Die erste Nacht ist furchtbar. Ich liege in einem fremden Bett. Es riecht falsch. Es steht in der Ecke. Wenn ich den Kopf ein wenig drehe, kann ich in den Himmel sehen. Alina schläft in der anderen Ecke, ohne Fensterblick. Renas Bett steht meinem gegenüber. Uns trennen kaum zwei Meter. Nähe, die ich nicht mag. 

Mein Magen. Wie immer, wenn ich etwas tue, was ich nicht tun sollte, dann rebelliert er. Ich versuche gleichmäßig zu atmen. Mich auf das zu konzentrieren, was in den kommenden Wochen auf mich zukommt. Versuche es zu kontrollieren. Doch das Ungewisse lässt sich nicht kontrollieren, überwachen, vorhersehen, eingrenzen. Es gibt nur Eckdaten. Sechs fremde Menschen unter einem Dach, abgeschirmt von der Außenwelt. Ein Experiment. Nicht einmalig, und doch neu. Für jeden, der daran teilnimmt. Nervenkitzel, Grenzgängertum. Wie kannst du nur. 

Es ist alles da. Putzmittel, Werkzeug, sogar eine Nähmaschine, Bücher, Papier und Stifte. Propangas, Geschirr. Im oberen Geschoss steht ein Klavier. Kann jemand darauf spielen? Wir spielen Robbinson, Herr der Fliegen. Wie albern. Wie aufregend. Wo bleibt der Schlaf? Die längst überwundene Angst vor der Nacht kriecht herauf. Legt sich wie ein Schuppenpanzer um den Bauch, breitet sich aus bis zum Hals. Braune, harte Schuppen, die den Atem aus dem Körper pressen. Die das Herz zum Rasen bringen. Das Laken klebt an meinen nackten Beinen. Am nächsten Morgen ist die Nacht weit weg. Genau wie die Angst. 

Alina ruft uns zum Frühstück, war Blumen pflücken, die in einer dunkelblauen Vase auf dem Tisch stehen. Tim hat nicht einmal Kopfschmerzen. Leon ist ein Morgenmuffel. Schlürft seinen Kaffee und raucht drei Zigaretten. Rena findet es widerlich. Sie findet fast alles widerlich. Ihr wird schlecht, wenn jemand beim essen raucht.

Tschuldigung, sagt Leon und geht nach draußen.

Ich finde es schade, wenn wir nicht alle zusammen essen, sagt Alina. 

Heul doch, Mutti, sagt Tim und geht raus zu Leon. 

Er meint es nicht so, sagt Alina und reicht mir den Brotkorb.

Du bist so hohl, sagt Rena und zurück bleiben Alina und ich, schweigend.