Seite August 2023

Madame J. C. Dubois

6. – 30. August

Wie naiv war ich eigentlich zu glauben, ich kaufe einen Oldtimer, hübsche den ein bisschen auf und dann gehts los? Nach 54 Jahre ist der Lack ganz schön ab. Also bei Little Miss Sunshine. Aber deswegen werde ich sie nicht wieder verkaufen.

Andrea Keller hat sich gemeldet. Die Frau, die mit ihrer mobilen Hundeschule unterwegs ist und seit fünf Jahren in Spanien im Wohnwagen lebt. Sie rät, ein permanentes Bett einzubauen. Wegen der Bequemlichkeit. Gute Idee. Über der kleinen Sitzecke, die dann mein Arbeitsplatz sein könnte, hätte ich gerne ein Regal. Und das Bad hab ich gestern schon mal vorsorglich rausgerissen. Das wird Stauraum mit einem Regalsystem.

Schräubchen hat eine Freundin, die beim Film arbeitet, gelernte Tischlerin. Peggy würde alle Holzarbeiten übernehmen. Sympathische Frau. Pragmatisch, kreativ. Ihre Vorschläge finde ich super. Ihr Kostenvoranschlag liegt bei viertausendfünfhundert. Eine eingepasste Matratze – Sondermaß von 1,26 x 1,87 m – krieg ich für dreihundert. Schräubchen hat mir seinen Kostenvoranschlag auch endlich geschickt. Zweitausendachthundert inklusive neuer Heizung und neuem Kühlschrank.

Pelle meint, ich solle über alles ein paar Nächte schlafen. So ein Quatsch. Wozu? Die Entscheidung für mein altes Schätzchen werde ich ganz sicher nicht revidieren. Es wird kein ganz preiswertes Vergnügen, aber dafür habe ich dann ein Unikat! Also haben Schräubchen und Peggy und der Raumausstatter grünes Licht bekommen. Außerdem habe ich noch eine unfassbar tolle Näherin gefunden, die mir die Gardinen näht. Alles in allem werde ich wohl Ende September los können.

Überlege, wieder freiberuflich zu arbeiten. Ein paar alte Kontakte zu aktivieren sollte kein Problem sein, Kooperationen wären eine prima Idee. Aber will ich wirklich wieder als Journalistin arbeiten? Meinen Eltern habe ich noch nichts von meinen Austteigen-für-ein-Jahr-Plänen erzählt. Wir haben vor ein paar Tagen gesprochen. Meine Mutter legte die alte Platte mit dem üblichen Gejammer über die strapaziösen Flüge, viel zu weichen Hotel-Betten, die niveaulosen Gäste, die Qualität des Kaffees, das Orchester auf. Ich weiß nicht, wie mein Vater die Divenhaftigkeit meiner Mutter aushält. Ihre unzufriedene Nörgelei hat sie inzwischen perfektioniert. Glücklicherweise hatte sie irgendeine ayurvedische Anwendung und ich musste ihre Tiraden keine zwei Minuten ertragen. Dad schwärmte wieder mal von New York. Gefragt, was bei mir gerade passiert, wie es mit Tom läuft, wie ich mir die Zukunft vorstelle, hat er natürlich nicht. Wenn ich meinen Eltern irgendetwas nicht vorwerfen kann, dann ihr mangendes Interesse am Leben ihrer einzigen Tochter. Inzwischen sind sie in Tokio, wo sind in der Suntory Hall zwei Vorstellungen geben und dann gehts weiter nach Moskau. Oder Rio? Vergessen.

Und während alle dafür sorgen, dass LMS fertig wird, und ich mir Gedanken mache, wie es beruflich weitergehen könnte, bekomme ich einen unerwarteten Anruf. Und zwar von Dr. A. Kayserling, von Text4book! Ich habe im vergangenen Jahr eine Reportage über den Verlag geschrieben. Das Interview mit Kayserling war eines der angenehmsten, das ich je geführt habe. Und jetzt will Kayserling mich unbedingt treffen. Wegen eines Ghostwriting-Projekts, das garantiert durch die Decke geht. Feuilletonaufmacher, Internationale Bestsellerliste, Deutscher Buchpreis, blaues Sofa, roter Teppich… Kayserling hat mich ins Hanoi eingeladen. Heute Abend.  

Ich bin Journalistin! Ich habe noch nie für jemanden anderen ein Buch geschrieben. Ich habe überhaupt noch kein Buch geschrieben. Ich weiß nicht mal, was Ghostwriting wirklich bedeutet.


J.C. Dubois. Kennt irgendwer J.C. Dubois? Nein? Wikipedia auch nicht. Im kompletten Netz kein einziger Eintrag, nirgends. Madame ist irgendwas zwischen 91 und 103 Jahre alt und soll mal eine ganz große Nummer in Frankreich gewesen sein. „Klara, wenn jemand dieser Frau gewachsen ist, dann Sie“, hat Kayserling das Gespräch eröffnet. Die wenigen Infos, die der Verlag über Madame Dubois hat, bekam ich in einer Mappe überreicht. Einer sehr dünnen Mappe. Keine fünf Seiten. Und es existiert nur ein einziges Foto von ihr, ein Porträt an dem Tag, als sie die Firma ihres Vaters übernommen hat, der bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Angeblich. „Es hält sich seit Jahrzehnten das Gerücht, dass es kein Unfall war.“ Kayserlings Augen haben bei diesem Satz geflackert und es stimmt, Madams Dubois Lebenklingt wie eine brasilianische Telenovela. Die investigative Journalistin in mir hat Blut geleckt angesichts dieser sehr wirren Geschichte um Konkurrenz, tote Liebhaber, feindliche Übernahmen, Korruption, politische Skandale und einem undurchsichtigen Geflecht verschieden international agierender Firmen, darunter Farmamento. Noch nie gehört. Wirtschaftsthemen haben mich nie wirklich interessiert. Bis jetzt.

Ghostwriting oder Biografie oder autofiktionaler Roman. Dem Verlag ist alles Recht, solange ich nur die Geschichte der Madame Dubois schreibe. Ich habe vierundzwanzig Stunden Zeit mich zu entscheiden.