
Pelle ist tot
2. bis 30. September
Es regnet seit Tagen. Ein Temperatursturz von über dreißig Grad auf nicht mal zwölf. Der Himmel war nur düsteres Novembergefühl. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich in das graue Nichts gestarrt habe, kaum atmen konnte. Mit dem bedrohlichen Gefühl von Schwere in der Brust, einem zugeschnürten Hals. Verquollenen, verklebten Augen. Wie viele Tränen kann man weinen? Pelle würde die Schultern zucken und sagen: „Und was ändert deine Heulerei jetzt?“
Und dann würde er mich hochscheuchen, keine Widerrede gelten lassen. Wir würden eine ewig lange Radtour machen oder segeln gehen oder den Garten bei seinen Eltern umgraben. „Bewegung ist das einzige was hilft bei Zuständen wie deinen“, sagt Pelle immer. Er würde mich zur Bewegung bis übers Limit zwingen. Am Ende wären wir verschwitzt, er zufrieden und ich erschöpft und dankbar. Nach einer heißen Dusche würden wir noch was zusammen kochen, statt unserer üblichen Küchentisch-Philosophien auf dem Sofa gammeln und TOP GUN oder THE ROCK gucken und spätestens dann hätte ich vergessen, welches Drama sich eigentlich auf mich gestürzt hatte. Am Morgen. Am Vorabend. Irgendwann.
Aber Pelle ist tot.
Wir sollten heute seinen Geburtstag feiern. Mit Johanna und Marie und Inger und Mona und Toni sollten wir uns hemmungslos betrinken. Pelle sollte dafür sorgen, dass wir alle später in ein Taxi steigen. Das Katerfrühstück sollte wie immer bei Pelle im Hinterhof sein. Diese grüne Oase aus den späten 1980er Jahren. Auf jeden Fall mit Marie, in die er so verknallt ist. Eine von diesen unscheinbaren Frauen, die erst auf den dritten oder vierten Blick ihre Graumäusigkeit verliert. Ich mochte Marie vom ersten Moment. Sie und Pelle wären ein wirklich schönes Paar.
Aber Pelle ist tot.
Für Raluca kommt Tierheim nicht in Frage. Marie will den Hund auf keinen Fall. Sie hat Angst und nur eine kleine Wohnung und arbeitet im Schichtdienst. Niemand will Raluca. Niemand – außer mir.

Obwohl ich nie wieder einen Hund wollte. Zu heftig ist der Schmerz, wenn so eine verdammte Fellnase stirbt.
Raluca. Was für ein sperriger Name für eine solche Schönheit. Pelle hat damals, als er sie bekommen hat, sogar rumänisch gelernt, damit Raluca Vertrauen aufbaut.
Aber Pelle ist tot.
Die Sprachlosigkeit der vergangenen Tage ist einer irritierenden Unruhe gewichen. Ich telefoniere, organisiere, delegiere. Den Vertrag für das Dubois-Projekt lasse ich gerade von einem Experten prüfen. Aber eigentlich ist mir das Ergebnis egal – ich unterschreibe.
Der Abschied von Pelle war grauenhaft und superschön gleichzeitig.
Im Friedwald haben die meisten durchgehend geheult. Ich habe die ganze Zeit nur gedacht, was für ein beschissener Scherz. Und: Pelle würde diesen Tag mögen. Marie hat für alle Seifenblasenfläschchen besorgt und dann gab es fliegende, runde, schimmernde Regenbögen, während Pelles Urne in die Erde gelassen wurde. Die Sonne schien, obwohl Regen angesagt war. Tom war auch da. Wir haben uns schweigend umarmt und er ist nach der Beisetzung wieder gefahren. Für Tom war Pelle immer ein Konkurrent.
Nach der Urnenbeisetzung unter einer riesigen Buche sind wir in Pelles Lieblingskneipe, haben in Fotoalben geblättert, die irgendwer mitgebracht hat, uns mit Geschichten von Pelle zum Lachen gebracht, uns über Pelles Engstirnigkeit bei manchen Themen lustig gemacht, ihn bewundert für seine Klarheit und Loyalität. Ich war nicht die einzige, die immer wieder zur Tür geguckt hat in der Erwartung, dass Pelle rein kommt und eine Lokalrunde schmeißt.
Wir haben bis heute morgen um fünf getanzt und gelacht und Pelle und das Leben gefeiert. Als wir aus dem CASTRO sind, war es kühl und neblig. Plötzlich ist der Herbst da.
Ich fühle mich amputiert und gleichzeitig frei. Was für ein irritierender Zustand.